In der Psychotherapie-Praxis erlebt man es jeden Tag: Viel hilft nicht unbedingt viel. Qualität kann nicht durch Quantität ersetzt werden. Und doch wird es immer wieder versucht, sogar im Bereich
von Freundschaften und Beziehungen.
Dass das nicht funktionieren kann, leuchtet irgendwie ein, andererseits verbiegt man sich dann doch wieder, um es nur allen recht zu machen, um nur niemanden zu verärgern oder gar zu
verlieren.
In den sozialen Medien erlebt man diese Tendenz bis zur Karikatur überzogen: da wird an jedem Posting gefeilt, jedes Statement ist ein geplantes Kalkül, um Zustimmung, Aufmerksamkeit, Likes zu
erhalten.
Likes, die neue Währung der schönen neuen Welt. Follower, die nur an ihre Anzahl und nicht an ihre Qualität gemessen werden. Je mehr, desto besser.
Man kennt seine Follower ja noch nicht einmal. Man sieht nur die nackte Zahl und die muss wachsen, um jeden Preis. Und auf gar keinen Fall darf sie weniger werden. Postings sind daher nicht mehr
ein Spiegelbild dessen, wie man sich fühlt, wie einem zu mute ist, was man gerne teilen möchte, sondern man postet das, von dem man glaubt, dass es Follower bringt.
So wie es uns in den achtziger Jahren das aufkommende Privatfernsehen schon schaudernd gezeigt hat: Quote über alles! Damals noch schockierend, ist das heute völlig normal. Und selbst damals war
man es von den Boulevard-Zeitungen längst gewohnt: Auflage über alles! Im Zweifel eben auch über Moral und Wahrheit.
In den sozialen Medien von heute spiegeln sich diese Auswüchse dann darin, dass zum Beispiel bei einem Unfall nicht mehr geholfen, sondern mit dem Handy draufgehalten wird, damit man es umgehend
in den sozialen Medien posten kann. Das gibt clicks, das gibt likes, das gibt Follower, und wenn die entsetzten Angehörigen dadurch dann aus den sozialen Medien vom Unfall oder gar Tod ihrer
Lieben erfahren, dann sind das eben Kollateralschäden, die man „für die gute Sache“, nämlich die eigene, in Kauf nimmt.
Aber macht wahllose Quantität wirklich glücklich? Gerade im Bereich von Freundschaften oder Beziehungen? Ist da nicht eher das Gegenteil der Fall?
Wer sich verbiegt und sein Verhalten nur darauf ausrichtet, anderen zu gefallen, der wird natürlich diese anderen auch anziehen, keine Frage. Er kann auf diese Art und Weise einen immer größeren
Freundeskreis um sich herumscharen.
Aber hat dieser dann auch tatsächlich den Namen Freundeskreis verdient? Diese Freunde, diese Partner wissen doch dann eigentlich gar nicht, mit wem sie es überhaupt zu tun haben, da sie von
jemandem angelockt wurden, der vorgab, jemand zu sein, der er gar nicht ist - aus Angst, so wie er ist, von niemandem gesehen oder gewollt zu werden.
Das Resultat ist, dass viele Menschen heutzutage einen riesigen Freundeskreis haben, der aus Menschen besteht, die ihn gar nicht meinen KÖNNEN, weil sie gar nicht wissen wer er „wirklich“ ist.
Und so opfert man all seine Zeit, um diesen riesigen Freundeskreis zu pflegen, und fühlt sich dabei weder gesehen noch gemeint, und versteht einfach nicht woher die innere Leere und Traurigkeit
kommen, wo man doch so viele Freunde hat…
Nein, echte Freunde, echte Beziehungen entstehen ganz anders, geradezu auf gegensätzliche Art: Mit dem Mut, man selbst zu sein, sich zu zeigen wie man ist. Ja, dadurch zieht man mit Sicherheit
natürlich viel, viel weniger Menschen an als wenn man es jedem Recht machen will und sich verbiegt.
Aber man zieht die richtigen an. Diejenigen, die wirklich zu einem passen.
Find your tribe. Darum geht es.
Und um das zu erreichen musst Du erst einmal loslassen lernen. Loslassen von viel zu viel Quantität.
Um überhaupt erst Zeit und Raum zu schaffen für die richtigen Menschen.
Die richtigen Menschen FÜR DICH, die Dich sehen und Dich meinen und Dich wollen, nicht OBWOHL du so bist wie du bist, sondern GERADE WEIL du so bist wie du bist. Und Die Dich darum auch nur dann
finden können, wenn du lernst, du selbst zu sein und aufhörst, dich zu verbiegen, um Masse anzuziehen.
Leider haben wir dieses gesunde Verhalten so sehr verlernt, dass ein Großteil der Psychotherapie-Arbeit aus nichts anderem besteht, als die Erlaubnis zu erteilen, so sein zu dürfen wie man ist.
Als den Klienten zu vermitteln, dass es in Ordnung ist, damit aufzuhören, sich zu verbiegen. Auch wenn es dabei nicht zu vermeiden ist, dass man dann Gegenwind erfährt und die Menschen, mit denen
man sich bisher umgeben hat, sich dagegen wehren, denn sie möchten keine Veränderung. Sie möchten dass man sich weiter verbiegt, weil es sie überhaupt nicht interessiert wer man wirklich ist. Und
so bekommt man Vorwürfe zu hören und wird plötzlich als der Böse abgestempelt („ich erkenn Dich gar nicht wieder!“). Das kann unglaublich verwirrend und schmerzvoll sein.
Die Hauptaufgabe eines Psychotherapeuten In solchen Konstellationen ist es, seinen Klienten durch diese Wirrungen hindurchzuhelfen und ihm als Kompass zu dienen, bis der eigene innere Kompass
wieder funktioniert. Und es mit breitem Kreuz und stellvertretend für seinen Klienten auszuhalten, dass er vom Umfeld seines Klienten dann selbst als der Böse abgestempelt wird, der Schuld daran
ist, dass sich der Klient plötzlich so sehr „zu seinem Nachteil“ verändert hat. Er ist nicht wieder zu erkennen! Er soll gefälligst wieder so werden wie er war! Er soll gefälligst wieder
„funktionieren“, sprich, sich wieder anpassen!
Stattdessen wird gemeinsam daran gearbeitet, dass sich der Klient ein neues, erstmals eigenes und „echtes“ Leben im Einklang mit sich selbst aufbaut.
Die Veränderung ist umfassend und auch das Umfeld ändert sich automatisch mit - ob mit den gleichen Personen wie vorher oder mit weniger und/oder anderen Personen lässt sich vorab nicht
abschätzen.
Aber eine bestimmte Veränderung tritt am Ende mal mehr, mal weniger immer auf: Der Klient lebt jetzt viel mehr im Einklang mit sich selbst, nach seinen Vorstellungen und Überzeugungen und nicht
länger nach den Wünschen anderer, die es gar nicht interessiert wer und wie er wirklich ist. Er lebt mit einem wieder funktionierenden inneren Kompass, und er hat dadurch erst den Grundstein
gelegt für ein authentischeres, ehrlicheres, glücklicheres Leben.