Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Menschen mit genau diesem Problem zur Psychotherapie kommen: In der Kindheit hat man ihnen beigebracht, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse weniger
wichtig sind im Vergleich dazu, was sich andere Menschen wünschen, dass es selbstsüchtig und falsch sei, seine eigenen Wünsche zu äußern, die außerdem am Ende sowieso meistens übergangen
wurden.
Ein Kind möchte es seinen Bezugspersonen grundsätzlich immer recht machen, und es lernt, dass die Erwachsenen umso zufriedener mit ihm sind und es anscheinend „umso lieber haben“, wenn es artig
und brav ist und nicht mit eigenen Wünschen stört. Die Folge ist, dass das Kind mit der Zeit verlernt, eigene Wünsche und Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen.
Dafür wird es ein Meister darin, Antennen auszubilden um die Wünsche und Bedürfnisse anderer zu lesen, die es auf gar keinen Fall enttäuschen will. Schließlich hat es gelernt, dass es dann am
meisten gemocht wird. Und der Wunsch geliebt zu werden, zumindest so viel dass es nicht verlassen wird, ist für ein Kind ein überlebenswichtiger Instinkt, so dass diesem instinktiven Bedürfnis
alles andere untergeordnet wird.
Ist ein solches Kind erwachsen geworden, hat es den Bezug zu seinem eigenen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen verloren. Es hält die Wünsche, Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen für die
eigenen. Es hat sich selbst verloren und lebt das Leben anderer - ohne es zu merken.
Das hat aber einen hohen Preis: es hat gemäß der Theorie der Tiefenpsychologie eine depressive Persönlichkeitsstruktur ausgebildet, das bedeutet, es ist anfällig geworden für bestimmte Arten von
Depressionen.
Doch selbst wenn es nicht zu einem Ausbruch einer Depression kommt, so begleitet solche Menschen oft ein Gefühl ständiger innerer Leere. Diese versuchen sie zu füllen: mit anderen Menschen, an
die sie sich Klammern, mit Konsum, mit Arbeit, mit Suchtmitteln. Doch nichts funktioniert wirklich gut.
Denn die innere Leere Ist dadurch entstanden, dass diese Menschen den Bezug zu sich selbst, zu ihren eigenen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen verloren haben. Nur damit könnte diese innere
Leere gefüllt werden. Aber dahin ist es ein langer Weg, denn bereits beim Versuch, sich darüber klar zu werden, was denn solche eigenen Gefühle und Wünsche und Bedürfnisse wären, tritt die in der
Kindheit erlernte Blockade auf: allein sich zu fragen, was man selbst denn will, macht plötzlich Schuldgefühle, da man gelernt hat, dass es selbstsüchtig sei, solche Fragen zu stellen. Man dürfe
schließlich nicht an sich selbst denken, es sei viel wichtiger und viel edler und ehrenwerter, an andere zu denken.
Leider macht diese Denkart auf Dauer psychisch krank. Es ist völlig in Ordnung und auch wünschenswert, anderen etwas von seinem Überschuss zu geben, und das macht auch Freude und ist erfüllend.
Es macht jedoch psychisch krank, ständig von seinen Reserven zu geben, weil man glaubt, man dürfe seine eigenen Reserven nicht wieder auffüllen. Und selbst wenn man das wollen würde, hätte man
verlernt, womit man eigene Reserven überhaupt wieder auffüllt.
Der erste Schritt heraus aus diesem Dilemma ist es, sich dessen überhaupt erst einmal bewusst zu werden. Ob die weiteren Schritte dann mit oder ohne therapeutische Hilfe zu bewältigen sind, hängt
vom Leidensdruck und von der Ausprägung des erlernten Mechanismus ab, es allen anderen immer Recht machen zu wollen.