Könnte es wirklich
ADHS sein?
Über 1000 Symptom-Beispiele
und hilfreiche Strategien
Dr. med. Barbara Gorißen
Impressum:
Dr. med. Barbara Gorißen
Wilhelm-von-Erlanger-Straße 22a
55218 Ingelheim
www.Praxis-Dr-Gorissen.de
barbara.gorissen@proton.me
Copyright 2. Auflage: Dr. Barbara Gorißen 2025; Alle Rechte vorbehalten
Herstellung durch Amazon Distribution GmbH
ISBN: 9798305886979
Imprint: Independently published
Autorin: Gesetzliche Berufsbezeichnung Ärztin. Berufsbezeichnung verliehen in der Bundesrepublik Deutschland. Es besteht die Facharztbezeichnung Innere Medizin, nach Weiterbildung und Prüfung verliehen von der Landesärztekammer Hessen. Die Zusatzbezeichnungen fachbezogene Psychotherapie, Palliativmedizin und Notfallmedizin wurden ebenfalls von der Landesärztekammer Hessen verliehen.
Zuständige Ärztekammer/Aufsichtsbehörde:
Bezirksärztekammer Rheinhessen
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur 2. Auflage 9
Vorwort zur 1. Auflage 10
Teil 1: Aufmerksamkeitsdefizit 15
Kriterium Nr. 1: Flüchtigkeitsfehler 17
Kriterium Nr. 2: Kurze Aufmerksamkeitsspanne 33
Exkurs: Der Hyperfokus 50
Kriterium Nr. 3: Nicht gut zuhören können 57
Kriterium Nr. 4: Aufgaben nicht komplett durchführen 70
Kriterium Nr. 5: Probleme, etwas zu organisieren. 85
Kriterium Nr. 6: Vermeiden und aufschieben 103
Kriterium Nr. 7: Dinge vergessen, verlegen und verlieren 114
Kriterium Nr. 8: Ablenkbarkeit 130
Kriterium Nr. 9: Vergesslichkeit 142
Teil 2: Hyperaktivität 156
Kriterium Nr. 1: Zappeligkeit 157
Kriterium Nr. 2: Probleme, lange zu Sitzen 171
Kriterium Nr. 3: Energie, Klettern und Bewegungsdrang 182
Kriterium Nr. 4: Schwierigkeiten, sich ruhig zu verhalten 195
Kriterium Nr. 5: Ständig unter Strom 206
Kriterium Nr. 6: Hoher Rededrang 218
Teil 3: Impulsivität 229
Kriterium Nr. 1: Erst reden, dann denken 230
Kriterium Nr. 2: Ungeduld 244
Kriterium Nr. 3: „Hoppla, jetzt komme ich!“ 259
Teil 4: Ausblick 270
Die guten Seiten: Funktionieren im Chaos 271
Über die Autorin 287
Vorwort zur 2. Auflage
Ich freue mich sehr, dass das Buch „Könnte es wirklich ADHS sein?“ so großen Anklang fand, dass nun nach einem Jahr schon die zweite Auflage notwendig wurde.
Denn zum einen kam die Anregung von Kollegen, die Symptombeispiele noch erheblich zu erweitern. So können sie nicht nur im Rahmen der Diagnostik noch klarer zugeordnet werden, es kann auch bereits im Vorfeld noch besser ausgefiltert werden, ob tatsächlich ADHS vorliegen könnte oder nicht.
So enthält die 2. Auflage nun über 1000 Symptombeispiele in leicht zu lesender Stichwortform — treffen die meisten davon zu, ist das Vorliegen von ADHS hochwahrscheinlich.
Zum anderen wurden aber auch immer wieder Bitten und Anfragen an mich herangetragen, ob ich das Buch nicht auch um die wichtigsten praxistauglichen Strategien gegen die vorgestellten und ja sehr belastenden typischen ADHS-Symptome ergänzen könnte.
In dieser umfassend ergänzten und erweiterten Auflage finden Sie somit nun auch zu jeder Symptomgruppe konkrete Strategien, die leicht umzusetzen sind und das Leben von Menschen mit ADHS nachhaltig erleichtern können. Ich hoffe, dass diese Ergänzungen Ihnen wertvolle Anregungen bieten und helfen, mit typischen Herausforderungen wie Unaufmerksamkeit, Impulsivität oder innerer Unruhe besser umzugehen. Gerade der Alltag kann für Menschen mit ADHS oft eine große Herausforderung sein, und mein Ziel war es, Strategien anzubieten, die praxisnah und für möglichst viele ADHSler hilfreich sind.
Die zweite Auflage ist aber nicht nur eine Erweiterung, sondern auch eine Einladung an Betroffene und ihre Angehörigen, das komplexe Thema ADHS genauer kennenzulernen, besser zu verstehen und aktiv Lösungen für die jeweiligen Herausforderungen zu finden.
Herzlichen Dank für Ihr Vertrauen und das wertvolle Feedback, das dieses Buch nun in der zweiten Auflage so umfassend wachsen ließ.
Ingelheim am Rhein, Januar 2025
Ihre Barbara Gorißen
Vorwort zur 1. Auflage
Die mehr als 300 Symptom-Beispiele aus diesem Buch entstanden überwiegend aus den zahlreichen und ausführlichen Gesprächen mit Menschen, die im Rahmen einer ADHS-Diagnostik von ihren vielfältigen Symptomen berichtet haben.
Dadurch entstand im Laufe der Zeit eine große Sammlung an Beispielen für Symptome und ihre Ausprägungen, die in so kleine Bausteine heruntergebrochen wurden, dass die echten Menschen dahinter nicht mehr im geringsten wiedererkennbar sind.
Außerdem wurden nur solche Beispiele verwendet, von denen besonders häufig berichtet wurde.
Diese Symptom-Beispiele wurden dann zu den verschiedenen Kriterienpunkten der gängigen diagnostischen Kriterienkataloge und der (aktuell ja gerade in Überarbeitung befindlichen) S3-Leitlinie zum Thema ADHS einsortiert — daran orientieren sich die einzelnen Kapitel in diesem Buch — und sind dadurch übersichtlich hier aufgelistet.
Zudem veranschaulichen in jedem Kapitel noch einmal fiktive Alltagsgeschichten fiktiver Erwachsener mit ADHS, wie sich die Symptome im Alltag auswirken können.
Die Menschen aus diesem Buch sind also zwar aus Gründen der ärztlichen Schweigepflicht nicht echt. Sie erzählen aber von echten Symptomen, wie sie echte Erwachsene mit ADHS üblicherweise haben und beschreiben würden. Dadurch soll auch deutlich werden, dass „ein bißchen Schusseligkeit“ noch lange kein ADHS ausmacht: Die Auswirkungen auf den Alltag müssen für eine ADHS-Diagnose deutlich einschneidender sein.
Für wen ist dieses Buch geschrieben?
1. Für Erwachsene, die sich erstmals fragen, ob sie womöglich ADHS haben könnten: Sei es, dass sie sich in einem Bericht in den Medien über Menschen mit ADHS wiedergefunden haben, sei es, dass ihr Kind oder ein anderes Familienmitglied gerade eine ADHS-Diagnose erhalten hat — oder dass sie aus einem anderen Anlass verwirrt und irritiert vor der Frage stehen, ob hinter so manchen Schwierigkeiten, die sich seit jeher konstant durch ihr Leben ziehen, womöglich doch etwas mehr stecken könnte als bisher gedacht.
Selbstverständlich kann kein Buch eine offizielle Diagnose ersetzen!Wer aber noch keine offizielle Diagnose hat und sich gerade erst im Stadium der Informationssuche befindet — „könnte ich wirklich ADHS haben?“ — der wird hier gut strukturierte Informationen über diejenigen ADHS-Kriterien erhalten, die auch bei einer offiziellen leitliniengerechten Diagnosestellung üblicherweise abgefragt werden.
Auf eine leichte Lesbarkeit wurde hierbei großen Wert gelegt, denn dieses Buch ist in erste Linie für die Betroffenen geschrieben. Und zwar insbesondere für diejenigen, für die das gesamte Thema noch neu ist — und die eine erste Orientierungshilfe suchen bei der Frage, ob es überhaupt ADHS sein kann, ob es also überhaupt sinnvoll wäre, sich auf eine Warteliste für eine offizielle ADHS-Diagnostik setzen zu lassen.
Darum habe ich mich in diesem Leitfaden einer ausführlichen Beschreibung der Symptome gewidmet, und nicht den möglichen Strategien oder therapeutischen Möglichkeiten; dies könnte dann Gegenstand eines Folgebuches sein.
Natürlich macht eine Schwalbe noch keinen Sommer und ein paar Symptome noch lange kein ADHS!
Aber wer sich in der überwiegenden Mehrheit (!) der nachfolgenden Symptom-Beispiele und Erzählungen wiederfindet, der könnte und sollte durchaus berechtigt mal ins Nachdenken kommen.
Und erfahrungsgemäß kann es eine riesengroße Erleichterung bedeuten, dass man doch nicht — wie so lange gedacht und befürchtet — mit diesen ganzen Symptomen allein ist. Dass es andere Menschen gibt, denen es ähnlich geht. Dass das Kind einen Namen haben und tatsächlich eine Diagnose sein könnte.
2. Für die Angehörigen von Menschen mit ADHS:
Diese stehen oft frustriert vor den Symptomen, die ihnen präsentiert werden, und wissen nicht, was sie davon halten sollen. Und was um alles in der Welt im Kopf des Menschen vorgeht, der ihnen so vertraut und doch manchmal so fremd und schwierig erscheint. Warum reißt er oder sie sich nicht einfach mehr zusammen? Angehörige sind oft verzweifelt und nehmen auch vieles persönlich, das gar nicht persönlich ist. Dieses Buch soll ihnen darum einen Einblick geben in die oft ganz andere Welt von Menschen mit ADHS.
3. Für meine Fachkollegen:
Die Einteilung der Symptome und Bereiche dieses Buches orientiert sich an der (derzeit ja gerade in Überarbeitung befindlichen) S3-Leitlinie und somit größtenteils an der WHO-Diagnosenklassifikation ICD-10 (internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, als in Deutschland geltende amtliche Diagnosenklassifikation) und dem in Deutschland oft gerne ergänzend zu Rate gezogenen DSM-5 (diagnostisches und statistisches Handbuch für psychische Störungen: DSM-5. 5th ed., American Psychiatric Association, 2013. DSM-V).
Durch die unterschiedliche und farbenfrohe Schilderung der Symptome, wie Menschen mit ADHS sie in ihrem Alltag erleben können, werden die einzelnen Punkte mit Praxis und Leben gefüllt. Dadurch können die Beispiele in diesem Buch eine Hilfestellung bei der Auslegung der Diagnosekriterien geben.
Das Buch ist aber bewusst nicht als komplexes Fachbuch für Fachkreise, sondern als fundierter, aber leicht zu lesender Leitfaden für Erwachsene angelegt, die glauben, womöglich ADHS zu haben.
Ziel ist es, der offiziellen Diagnostik sozusagen einen Filter vorzuschalten, um die Personengruppe auszufiltern, die a) wahrscheinlich kein ADHS hat und daher auch keine Diagnostik benötigt, oder die b) sehr viele und sehr ausgeprägte Symptome und dadurch einen hohen Leidensdruck hat und somit einer offiziellen Diagnostik tatsächlich baldmöglichst zugeführt werden sollte.
Der Engpass in der ADHS-Diagnostik ist ja hinreichend bekannt, somit sollte ein derartiger als erste Orientierungshilfe vorgeschalteter Leitfaden durchaus seinen Nutzen haben und sehr im Sinne der tatsächlich von ADHS betroffenen Menschen sein.
Dieser Leitfaden ist daher so aufgebaut, dass die Diagnosekriterien für ADHS von ICD-10 sowie DSM-5 in den einzelnen Kapiteln aufgegriffen und durch viele Symptom-Beispiele erläutert werden.
Es erfolgt auch immer wieder der Hinweis, dass auch viele zutreffende Symptome noch lange kein ADHS bedeuten müssen, verbunden mit weiteren Informationen, beispielsweise über mögliche andere Ursachen für die entsprechenden Symptome.
Anschauliche Beispiele fiktiver Betroffener, die darüber berichten, wie sich die Symptome in ihrem Alltag schon seit ihrer Kindheit auswirken, runden die einzelnen Kapitel ab und machen diesen Leitfaden - so ist es jedenfalls gedacht - besonders gut lesbar.
Ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen von diesem Leitfaden profitieren können und somit eine erste Orientierungshilfe bei der Frage erhalten: „Könnte es wirklich ADHS sein?“
Ingelheim am Rhein, Dezember 2023
Dr. med. Barbara Gorißen
Teil 1: Aufmerksamkeitsdefizit
Kriterium Nr. 1: Flüchtigkeitsfehler
Als Erwachsene(r) …
Als Kind …
Wenn fast alle dieser Symptom-Ausprägungen auf Sie zutreffen, haben Sie dann automatisch ADHS?
Nein. Selbstverständlich können Flüchtigkeitsfehler auch bei Menschen ohne ADHS vorkommen. Es sind generell die Schwere und die Anzahl der Symptome insgesamt - also nicht nur in diesem Kapitel, sondern über das gesamte Buch hinweg - die den Verdacht auf ADHS lenken.
Außerdem gilt grundsätzlich, dass die Symptome nicht nur phasenweise auftreten dürfen, sondern seit der Kindheit durchgehend bis zum heutigen Tag ein wirkliches Problem für die Betroffenen darstellen müssen, damit der entsprechende Kriterienpunkt als zutreffend gewertet werden kann.
Es geht also beispielsweise beim Kriterienpunkt „Flüchtigkeitsfehler“ nicht darum, gelegentlich einmal etwas zu übersehen. Es geht darum, seit der Kindheit immer wieder und ständig damit zu kämpfen, dass Flüchtigkeitsfehler selbst bei größter Anstrengung einfach nicht zu vermeiden sind.
Bei allen Symptomen in diesem Buch spielt zudem eine wichtige Rolle, dass sie bereits seit der Kindheit bestehen müssen, um mit ADHS in Verbindung gebracht werden zu können.
War die Kindheit völlig unauffällig oder kann sie nicht erinnert werden, wird vermutlich auch keine ADHS-Diagnose erfolgen können. Wahrscheinlicher ist dann nämlich, dass die Symptome andere Ursachen als ADHS haben.
Und von solchen Ursachen gibt es nicht wenige. Daher nimmt auch die Differenzialdiagnostik bei der Abklärung einen großen Stellenwert ein. Hierfür wird dann die Frage: „Könnte es ADHS sein?“, zu der Frage abgeändert: „Könnte es auch etwas anderes sein?“
Beide Fragen sind wichtig und müssen sicher geklärt werden!
Lassen wir zur weiteren Veranschaulichung aber doch einfach einmal Menschen mit ADHS von ihrem ständigen Kampf gegen Flüchtigkeitsfehler berichten.
Vielleicht wird es dann etwas klarer, wie sich das im Alltag Betroffener typischerweise auswirkt:
Anja, 19 Jahre:
„Ich schaffe es noch nicht einmal, eine simple Mail zu schreiben, ohne dass diese am Ende voller Flüchtigkeitsfehler ist.
Und das Verrückte ist, das läuft dann immer wieder gleich ab: Ich weiß, dass die Mail wie immer voller Fehler ist, und ich versuche deshalb auch tatsächlich, sie noch einmal durchzulesen. Ich werde dann aber nach ein paar Zeilen ungeduldig und schicke sie dann doch genau so ab, wie sie ist.
In dem Moment, in dem ich sie abgeschickt habe, bereue ich das dann aber sofort, gehe direkt zum „Gesendet“-Fach und lese sie mir jetzt, wo es eh zu spät ist, nochmal komplett durch. Aarrgh!!!
Natürlich finde ich dann nochmal etliche Flüchtigkeitsfehler und ärgere mich jedes Mal schwarz: Warum habe ich mir die Mail nicht einfach VORHER durchgelesen? Ja, schon klar, es ging irgendwie nicht, überhaupt nicht, aber WARUM ging es nicht? Jetzt im Nachhinein ging es doch auch! Ich verstehe mich da einfach selbst nicht.
Wirklich wichtige Mails lasse ich deshalb auch von meinen Freunden gegenlesen, allerdings fällt es mir sehr schwer, dann auf die Antwort meiner Freunde zu warten — und nicht irgendwann die Mail doch schon einmal so wie sie ist abzuschicken“.
Jens, 62 Jahre:
„Flüchtigkeitsfehler begleiten mich schon mein ganzes Leben lang. Schon in der Grundschule waren es nur sehr selten Wissensfehler, die überall in meinen Heften rot angestrichen waren, sondern fast ausschließlich Flüchtigkeitsfehler. Für diese wurde ich zu Hause dann ganz besonders geschimpft, weil meine Eltern der Auffassung waren, dass diese Flüchtigkeitsfehler vermeidbar gewesen wären.
Sie haben leider nie verstanden, dass Flüchtigkeitsfehler tatsächlich die einzigen Fehler sind, die ich eben nicht vermeiden kann. Wissensfehler kann ich durch Lernen beheben, Flüchtigkeitsfehler nicht.
Meine Eltern haben mir dann immer gepredigt, dass ich Flüchtigkeitsfehler einfach durch mehr Sorgfalt vermeiden könne, aber genau diese Sorgfalt ist mir nicht möglich.
Selbst wenn ich alles am Ende nochmal durchlese, ist mein Kopf dann längst mit etwas anderem beschäftigt, und weigert sich, etwas noch einmal bewusst wahrzunehmen, das er bereits kennt und das ihn deshalb viel zu sehr langweilt.
Ich kann sogar alles drei- oder viermal durchlesen, aber es erreicht mein Bewusstsein nicht mehr. Es prallt an meinem gelangweilten Gehirn einfach ab, sodass ich die Flüchtigkeitsfehler auch nach mehrmaligem Durchlesen nicht finde. Ich weiß, dass das sehr schwer zu verstehen und nachzuvollziehen ist, aber ich finde sie wirklich nicht mehr, ich überlese sie einfach!
In den Klassenarbeiten und später dann bei den Klausuren im Studium habe ich Strategien dagegen entwickelt; so habe ich die Aufgaben in unterschiedlicher Reihenfolge nochmal durchgelesen und dann mit einem Haken versehen, wenn ich mir sehr sicher war, dass ein Abschnitt korrekt ist.
Dadurch konnte ich also zumindest markieren, welche Abschnitte ich mir nicht noch einmal durchlesen musste, und dann konnte ich mich darauf konzentrieren, möglichst viele solcher Abschnitte mit einem Haken zu versehen.
Dennoch ist das Thema Flüchtigkeitsfehler meine ganz große Schwachstelle bis heute und wird mich wohl noch mein ganzes restliches Leben begleiten.“
Silvia, 44 Jahre:
„Ich neige schon seit meiner Schulzeit zu Flüchtigkeitsfehlern, und meine Eltern haben mich deshalb sehr früh und auch sehr massiv dazu erzogen, als Gegenmaßnahme ganz besonders langsam und sorgfältig vorzugehen.
Typisch war für mich zum Beispiel als Kind, die Fragen bei Klassenarbeiten gar nicht richtig durchzulesen. Nach der Hälfte einer Frage dachte ich dann, ich wüsste schon, worauf die Frage hinausläuft, und habe einfach mit dem Schreiben angefangen, ohne die Frage zu Ende zu lesen. Das ging manchmal gut, ging aber leider sehr oft auch daneben.
Textaufgaben in Mathe oder Physik habe ich immer besonders gefürchtet. Ich habe den Text einfach nur überflogen, dachte dann, ich wüsste, worauf das hinausläuft, und habe mit dem Rechnen angefangen. Am Ende war das Ergebnis natürlich fast immer falsch.
Oder ich habe in den Klassenarbeiten ganze Aufgaben einfach übersehen, und das nicht nur dann, wenn sie auf der Rückseite standen. Ich weiß selbst nicht, wie das passieren kann, aber es ist mir einfach immer wieder passiert!
Zu Hause habe ich dann einen Riesenärger bekommen, mit Hausarrest und allem, was dazugehört. So bin ich dann irgendwann ins andere Extrem gerutscht, und anstatt hektisch und schnell die Aufgaben zu überfliegen, wurde ich dann eben total langsam und habe fast in Zeitlupe gearbeitet.
Anfangs musste ich mich dazu zwingen, aber inzwischen ist das längst meine zweite Haut geworden, aus der ich auch nicht mehr gut heraus kann.
Sobald ich eine Aufgabe erledigen soll, die Konzentration erfordert, rutsche ich in eine Art „Aufgabenmodus“ und werde dann extrem langsam. In meinem Kopf tanzen dann nach wie vor die Eichhörnchen und lenken mich immer wieder ab, aber ich komme danach wieder exakt zum Ausgangspunkt zurück, und mache dort dann weiter.
Ich habe später als Erwachsene zu meditieren gelernt, und das hat wirklich eine große Ähnlichkeit mit meinem „Aufgabenmodus“.
In der Meditation tauchen ja auch ständig Gedanken auf, was niemand verhindern kann, und man übt dann einfach, diese auftauchenden Gedanken ziehen zu lassen, ihnen keine Energie zu geben, sondern einfach wieder geduldig zum Ausgangspunkt zurückzukehren, wenn man die Gedanken bemerkt. Und genau so mache ich das auch, wenn ich mich auf eine Aufgabe konzentrieren soll.
Natürlich macht mich das ziemlich langsam. Das war als Kind aber noch viel schlimmer, denn damals hatte ich ja noch überhaupt keine Übung darin, ablenkende Gedanken zu bemerken, und ich habe mich dann darin verloren und zum Beispiel im Unterricht die meiste Zeit nur aus dem Fenster geschaut.
„Träum nicht herum“, dieser Satz hat mich bis in meine Pubertät begleitet. Ab da hatte ich es dann besser im Griff, habe viel schneller gemerkt, wenn ich wieder mal meinen Gedanken nachhing, und konnte dementsprechend auch schneller wieder zu meiner Aufgabe zurück.
Aber langsam bin ich auch heute noch, wenn ich mich auf eine Aufgabe konzentrieren soll. Viel langsamer als meine drei Kolleginnen zum Beispiel, die mich deshalb auch immer wieder aufziehen.
Seit ein paar Jahren, seit ich die Diagnose ADHS bekam, gehe ich auch ganz offen damit um. Ich brauche halt etwas länger, dafür sind dann aber auch keine Flüchtigkeitsfehler drin. Naja, oder zumindest nicht so viele.“
Hanna, 24 Jahre:
„Ich bin eigentlich seit jeher sehr hektisch, so erkläre ich mir auch immer meine vielen Flüchtigkeitsfehler. Schon als Kind bekam ich immer wieder zu hören: „Jetzt sei doch nicht schon wieder so hektisch!“
Ich habe zum Glück als Fitnesstrainerin einen Job, in dem ich mich auch körperlich auspowern kann, und bei dem meine Hektik nicht so auffällt. Man sagt mir sogar nach, dass ich die Leute bei meinen Kursen sehr gut mitreißen kann. Da kommt meine Hektik zum Glück als Power und Engagement rüber. Mir selbst fällt meine Hektik übrigens überhaupt nicht auf, oder wenn, dann empfinde ich es als Energie und eigentlich sogar als ganz angenehm.
Aber meine Kollegen und Kolleginnen kennen natürlich auch die Nachteile dieser Hektik, und das sind dann eben die vielen Flüchtigkeitsfehler beim Routinekram und vor allem beim Bürokram. Das liegt mir wirklich absolut gar nicht. Wahrscheinlich auch, weil es mich nicht wirklich interessiert, und dann neige ich immer ganz besonders dazu, alles nur zu überfliegen. Und ich neige dazu, dann zu denken, ich hätte trotzdem alles Wichtige erfasst - stimmt nur leider oft nicht.
Ich muss Briefe, Mails und Verträge auch immer drei- oder viermal durchlesen, um alle Flüchtigkeitsfehler zu entdecken. Und das ist dann aber trotzdem keine Garantie dafür, dass da nicht trotzdem noch Flüchtigkeitsfehler drin sind.“
Einige hilfreiche Strategien
Flüchtigkeitsfehler sind ein sehr, sehr häufiges Problem bei ADHS und können im Alltag und Beruf zu großer Frustration führen. Hier sind einige mögliche Strategien, um solche Fehler zu reduzieren (ganz vermeiden werden Sie es wohl nie können — machen Sie Ihren Frieden damit….).
Nicht alles funktioniert für jeden ADHSler gleich gut, darum sind die folgenden Strategien erst einmal nur zum Ausprobieren gedacht. Finden Sie heraus, welche der nachfolgenden Strategien möglicherweise am besten zu Ihnen paßt:
1. Checklisten
2. Aufgaben „herunterbrechen“
Gegenbeispiel: Allerdings gibt es auch ADHSler, die mit der gegenteiligen Strategie Erfolg haben: Der „Staubsaugerroboter-Strategie“. Will heißen, man nimmt sich jeden Tag ein bißchen Zeit (so lange, bis man die Lust verliert), putzt überall ein bißen, räumt hier ein bißchen was weg, dort ein bißchen auf, und am Ende sieht dienWohnung zwar nicht wirklich sauber und aufgeräumt aus, aber das totale Chaos bleibt bei regelmäßiger Durchführung eben auch aus.
Wie man an diesem Gegenbeispiel sehr gut sehen kann, gibt es nicht die eine Strategie, die für alle gleich gut funktioniert!
3. Verlangsamungstechniken einsetzen
Flüchtigkeitsfehler entstehen häufig durch Hektik und den Drang zur schnellen Fertigstellung. ADHSler wissen sofort, was ich damit meine… Was also kann man als Strategie gegen Flüchtigkeitsfehler tun, wenn genau dies das Problem ist?
Vorsicht: Treffen Sie Gegenmaßnahmen, um zu verhindern, dass Sie vergessen, aus der Pause wieder herauszukommen… Also nicht nur einen Timer stellen, der Sie an die Pause erinnert, sondern auch einen, der Sie wieder zurück an die Aufgabe führt.
4. Verstärkung durch visuelle Hilfen
5. Feedback-Loops integrieren
6. Technologische Hilfsmittel nutzen
7. Zeitdruck vermeiden
8. Arbeitsumgebung optimieren
Kriterium Nr. 2: Kurze Aufmerksamkeitsspanne
Als Erwachsene(r) …
Als Kind …
Wenn die meisten oder sogar alle diese Beispiele auf Sie zutreffen, haben Sie dann ganz sicher ADHS?
Nein. Für eine Diagnose sollte nicht nur auch die Mehrheit der anderen in diesem Buch beschriebenen Kriterienbereiche von einem erfahrenen Diagnostiker als zutreffend bewertet werden — ein Kapitel allein oder auch ein paar Kapitel reichen definitiv nicht aus!
Außerdem gelten weitere Zusatzkriterien, wie zum Beispiel der Ausschluss von infrage kommenden Differenzialdiagnosen, die beurteilt werden müssen, sodass eine Eigendiagnose auch anhand der längsten und umfangreichsten Liste an Beispiel-Symptomen nicht möglich ist. Aber dieses Buch kann schon einmal nur als erste Information dienen und wichtige Hinweise liefern.
Ein wichtiger grundsätzlicher Punkt um eine ADHS-Diagnose stellen zu können ist auch, dass die Symptome bereits in der Kindheit vorhanden sein und damals sogar noch deutlich ausgeprägter gewesen sein mussten.
Es kommt jedoch nicht selten vor, dass ausführlich wirklich viele und schwere Symptome im Hier und Jetzt geschildert werden, aber bei der Frage nach der Kindheit heißt es dann: „Daran kann ich mich nicht erinnern“, oder aber: „Das war damals wohl auch schon da, aber ich konnte es unterdrücken, um keinen Ärger zu bekommen“.
Als grobe Faustregel darf jedoch sicher gelten: An eine Kindheit mit ADHS kann man sich erinnern, denn die war meist alles andere als leicht — für keinen der Beteiligten. Und die Symptome bei Kindern mit ADHS sind auch nicht einfach durch Selbstdisziplin zu unterdrücken. Weder Ermahnungen oder sogar Strafen noch motivierende Belohnungen können die Symptome so einfach zum Verschwinden bringen, und die Kinder leiden selbst massiv darunter.
Manche schaffen es tatsächlich, morgens in der Schule die Kraftanstrengung zu vollbringen, sich zusammenzureißen, was ihnen mehr oder weniger gut gelingt — Mädchen schaffen das normalerweise etwas besser. Kommen solche Kinder dann nach Hause, sind sie durch die Kraftanstrengung des Zusammenreißens dann oft so unter Strom, dass sie ein Ventil brauchen. In der vertrauten Umgebung fühlen sie sich endlich sicher genug — und drehen auf.
Darum erinnern sich Erwachsene mit ADHS üblicherweise sehr gut an ihre Kindheit: an die ständigen Konflikte, die inneren und äußeren Kämpfe und an das einsame Gefühl, „anders“ zu sein.
Die in der Kindheit noch deutlich vorhandenen Symptome werden im Erwachsenenalter dann oft weniger, oft deshalb, weil der Erwachsene inzwischen halbwegs funktionierende Strategien dagegen entwickelt hat.
Eine wichtige Vorgabe bei der Diagnostik ist übrigens auch, dass alle Lebensbereiche betroffen sein müssen. Treten manche Symptome zum Beispiel nur am Arbeitsplatz auf und verschwinden nach Feierabend, oder treten sie nur im Zusammenhang mit bestimmten Menschen auf, dann ist die Ursache eher psychisch bedingt oder erlernt und eben nicht eine den gesamten Menschen und alle seine Lebensbereiche betreffende Neurodiversität.
Die verkürzte Aufmerksamkeitsspanne ist somit eines der Kernsymptome von ADHS und kann in verschiedenen Lebensbereichen Probleme verursachen. Schauen wir uns an, wie typische Aussagen von Menschen mit ADHS zu diesem Thema aussehen können.
Michael, 27 Jahre:
„Ich lasse mich unheimlich schnell ablenken. Ehrlich gesagt ist das der Punkt, der mich bei meinem ADHS am meisten stört. Ich fange etwas an, dann schießt mir ein anderer Gedanke durch den Kopf, ich folge ihm, und das, was ich gerade gedacht oder gemacht habe, ist vollkommen vergessen.
Oder ich bin gerade mal wirklich konzentriert, richtig schön im Flow, dann höre ich aber plötzlich irgendein Geräusch von draußen, und ich bin schlagartig wieder komplett raus aus der Konzentration, und finde dann auch nicht mehr so schnell wieder rein.
Besonders schlimm ist es leider auch bei den Vorlesungen. Da lenkt mich einfach alles ab und stört mich massiv beim Zuhören. Jemand trinkt aus einer Plastikflasche, die dabei knisternde Geräusche macht? Zwei Kommilitonen eine Reihe hinter mir unterhalten sich leise, und sei es auch nur flüsternd? Ein paar Reihen vor mir trommelt jemand mit seinem Kugelschreiber auf seinen Schreibblock? Das bringt mich sofort raus! Ich kann dann der Vorlesung nicht mehr folgen. Es geht einfach nicht!
Ein paar Strategien habe ich dagegen, zum Beispiel mache ich mir Ohrstöpsel rein — das filtert zumindest die leisen Gespräche der Kommilitonen und ähnliche leisen Störgeräusche raus, während die Stimme des Profs laut genug ist, dass ich sie trotzdem noch höre. Die Ohrstöpsel finde ich zwar sehr lästig, aber mir bleibt nun mal nichts anderes übrig.
Super ist es natürlich, wenn ein Prof die Vorlesung filmt und anschließend online stellt. Dann kann ich sie zu Hause in aller Ruhe anschauen, kann zurückspulen, wenn ich mal wieder 10 Minuten in Gedanken war und nichts mitbekommen habe, und die Störgeräusche im Hörsaal sind auf den Mitschnitten zum Glück praktisch nicht zu hören.
Leider sind solche Mitschnitte selten. Und bei den übrigen Vorlesungen muss ich mich halt auf die Lehrbücher verlassen und auf die Mitschriften der anderen, die sie mir dann netterweise kopieren.
Aber ob ich das Studium so schaffen kann, da möchte ich nicht die Hand dafür ins Feuer legen. Es ist einfach unheimlich anstrengend durch meine Konzentrationsschwierigkeiten, viel anstrengender, als es für meine Kommilitonen ist. Die kämpfen nur mit dem Stoff. Ich dagegen kämpfe zusätzlich auch noch mit meinem Hirn und meiner extremen Ablenkbarkeit. Das nervt einfach.
Ich habe jetzt aber gehört, dass ein Fernstudium womöglich eine gute Alternative sein könnte, denn da läuft fast alles online ab, auch wenn es immer mal wieder Präsenzveranstaltungen gibt.
Ich habe mich da mal etwas genauer damit beschäftigt, und das könnte wirklich etwas für mich sein. Es gibt da interaktive Onlinekurse, die man in seinem eigenen Tempo durcharbeitet, und zwar zu Hause im stillen Kämmerlein, also ohne ständig abgelenkt zu werden.
Aber natürlich hat das auch seine Schattenseiten. Ich könnte mir vorstellen, dass bei einem Fernstudium gerade diese enorme Freiheit, dieses „ich lerne wann ich will, wie oft ich will, was ich will und wie lange ich will“, zum großen Problem werden könnte. Denn leider brauche ich auch immer einen gewissen Druck, sonst funktioniere ich nicht.
Ich neige dazu, alles vor mir herzuschieben, alles erst mal so lange liegenzulassen, bis der Abgabedruck wirklich riesig wird, bis ich also gar keine andere Möglichkeit mehr habe, als etwas zu tun. Dann rutsche ich gezwungenermaßen in einen Hyperfokus und erledige die Arbeit von Wochen in wenigen Nächten.
Bei einem Fernstudium gibt es zwar auch Abgabetermine, wenn man sich für einen Schein eingeschrieben hat. Aber zumindest bei dem Fernstudium, das ich mir angeschaut habe — Jura — hatte man da doch sehr große Freiheiten und sehr wenig Druck. Zu viele Freiheiten und zu wenig Druck, fürchte ich. Naja, mal schauen — vielleicht schaffe ich mein Präsenzstudium ja doch noch, trotz der ganzen Ablenkungen bei den Vorlesungen.“
Thomas, 33 Jahre:
„Schon als Kind habe ich unzählige Spiele angefangen, und bin dann nach ein paar Minuten aufgesprungen, weil mir ein anderer Gedanke gekommen ist, was mir jetzt Spaß machen könnte, und ich habe das nächste Spiel aufgebaut.
Meine Mutter ist immer schier wahnsinnig geworden, weil ich nie etwas fertig gemacht habe. Dabei habe ich schon als Kind nicht verstanden, was daran denn so schlimm sein soll.
Und heute als Erwachsener sehe ich meine Art der Freizeitgestaltung sogar als eine Stärke an: Wenn ich meinen Hobbys nachgehe, dann mache ich das nicht zielorientiert, sondern eben prozessorientiert.
Ich mache eine Sache, solange sie mich fesselt und mir Spaß macht. Wenn ich abgelenkt werde und mir etwas anderes genauso viel oder sogar noch mehr Spaß macht, was ist daran denn falsch? Es ist meine Freizeit, und ich darf doch wohl selbst entscheiden, wie ich sie am besten nutzen will?
Ich habe mal einen Spruch gelesen, der seitdem zu einer Art Leitsatz für mich geworden ist: „Wenn der Weg schön ist, lass uns nicht fragen, wohin er führt“. Genau so ist es! Ich möchte in meiner Freizeit einfach das machen, was mir gerade Spaß macht, und mich nicht auch da noch verplanen und etwas erreichen müssen.
Ich habe in meinem Leben schon viele Hobbys ausprobiert, und die meisten nach einer Weile auch wieder aufgegeben. Viele davon deshalb, weil sie eine Leistungsorientierung und eine feste Struktur und einen Zeitplan erfordert haben, dem ich mich in meiner Freizeit einfach nicht aussetzen will.
Darum sind zum Beispiel bald alle Sportarten weggefallen, bei denen man regelmäßig zu einer festen Zeit irgendwo sein muss, wie zum Beispiel Mannschaftssportarten. Oder die ein festes Ziel hatten, auf das man dann hinarbeiten sollte, womöglich sogar noch mit einem starren Trainingsplan, wie bei einem Marathonlauf. So etwas ist einfach nichts für mich.
Mein Motto ist, der Weg ist das Ziel, und so bin ich dann bei Hobbys hängengeblieben, die ich genau dann machen kann, wann ich es will, und zwar, solange ich es will. Ich bin beispielsweise beim Skateboarden hängengeblieben — und weiß inzwischen, dass sich unter den Skatern sehr viele ADHSler befinden.
Ich fahre auch gern Ski und Motorrad und Rennrad, wobei das mit dem Rennrad schon etwas schwieriger ist — denn wenn ich da erst mal eine Weile durch die Gegend gefahren bin und plötzlich keine Lust mehr habe, und lieber was anderes machen will, kann es sein, dass der Rückweg ziemlich weit ist, und das ist dann ziemlich ätzend.
Am liebsten mache deshalb Dinge, mit denen ich jederzeit wieder aufhören kann, wie Gitarre spielen oder Serien schauen. Serien sind mir dabei übrigens weitaus lieber als Filme, denn es fällt mir schwer, einen ganzen Film lang konzentriert zu bleiben. Ich hasse es, wenn ich dann der Handlung nicht mehr folgen kann, nur weil ich zwischendurch mal wieder abgelenkt war.
Bei Serien ist das weniger ein Ding. Wenn man einmal den Handlungsrahmen verstanden hat, darf man ruhig auch mal abgelenkt sein, und man kommt trotzdem noch mit.
Wobei, Actionfilme gehen eigentlich auch, da ist die Handlung ja selten so verschachtelt, dass man die ganze Zeit hochkonzentriert bei der Sache sein muss. Darum entspannen mich Actionfilme sehr, die kann ich einfach nebenbei schauen, ohne Angst haben zu müssen, plötzlich nur noch Bahnhof zu verstehen, wenn ich gedanklich wieder mal abschweife.“
Cindy, 21 Jahre:
„Entspannung bedeutet für mich, einfach nur stundenlang auf dem Handy herumdaddeln, und mich da einfach treiben lassen. Meine querschießenden Gedanken endlich einmal nicht unterdrücken müssen, sondern sie einfach laufen lassen können.
Ich scrolle ein wenig in den sozialen Medien herum, dann schießt mir ein Gedanke durch den Kopf — sagen wir mal, wie alt wohl Schildkröten werden können — und ich recherchiere das prompt nach.
Zwanzig Minuten später lese ich dann etwas über Mumifizierungstechniken bei den alten Ägyptern, nur um mir zehn Minuten später die neusten Kino-Trailer reinzuziehen, und dann nach kurzer Zeit wieder beim Lebenslauf von Leonardo da Vinci auf irgendeiner Website zu landen. Sowas entspannt mich total.
Was ich dagegen unheimlich anstrengend finde, das ist, mit meiner Freundin ins Kino zu gehen oder einen Film anzuschauen. Ich finde es echt schwierig bis unmöglich, mich so lange zu konzentrieren; ich kann mich zwar zusammenreißen und irgendwie durchhalten, aber Entspannung geht wirklich anders. Wenn ich abends mal allein vor dem Fernseher sitze, dann lege ich die Fernbedienung gar nicht erst nicht aus der Hand. Channelzapping vom Feinsten!
Und wenn ich mal allein einen Film streame, dann spule ich eigentlich ständig nur vor, weil mir lange, ruhige Szenen einfach zu langweilig sind. Ich meine, wenn mal erkennbar nichts passiert, dann muss ich einfach den Schnelldurchlauf reinhauen.
Ich weiß, dass ich das nur machen kann, wenn ich alleine bin, weil das wirklich keiner aushält, das kann normale Menschen schon wahnsinnig machen, das sehe ich ja ein. Aber mich macht es genauso wahnsinnig, drei Stunden im Kino sitzen zu müssen und nicht vorspulen oder wenigstens mal kurz aufstehen und herumlaufen zu können.“
Anna Lena, 19 Jahre:
„Ich liebe Mangas und generell Comics, ich lese sehr gern, aber ich habe große Schwierigkeiten damit, ein Buch zu lesen. Das endet meist damit, dass ich eine Seite drei- oder viermal lesen muss, weil ich am Ende der Seite plötzlich merke, dass ich sie zwar gelesen habe, aber mit meinen Gedanken ganz woanders war und mich an keine einzige Zeile mehr erinnern kann.
Schwer zu beschreiben, wie das geht, aber es ist so. Ich kann eine Seite Zeile für Zeile lesen und mich am Ende der Seite an keine einzige Zeile mehr erinnern. Es ist, als ob mein Gehirn mehrere Abteilungen hätte, und die eine weiß nicht, was die andere tut.
Und bei Hörbüchern und Podcasts kommt es sehr auf den Sprecher an. Manche haben eine Art zu sprechen, die sich ganz unauffällig und unaufdringlich in meine Hirnwindungen schleicht und sie irgendwie so komplett ausfüllt, dass ich dem Gesprochenen ohne jede Mühe folgen kann. Aber das ist doch eher selten.
Meistens ist es mit Hörbüchern und Podcasts sogar noch schlimmer als mit Büchern. Ich höre die ersten Sätze noch zu, und bin dann nach kurzer Zeit völlig mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. Ich höre dann einfach nicht mehr zu — etwas, das man mir ja sowieso auch im Alltagsleben immer wieder nachsagt — und die Stimme des Sprechers wird einfach nur noch zu einem Hintergrundgeräusch ohne irgendeinen Inhalt.“
Lydia, 68 Jahre:
„Wenn ich mich nicht zu 100 % auf eine Aufgabe konzentriere, um sie zu Ende zu bringen, dann kann ich angefangene Arbeiten nicht erledigen. Ich lasse mich sehr leicht ablenken, wenn ich beispielsweise aufräume. Ich nehme mir vor, eine Schublade aufzuräumen oder etwas zu sortieren, finde dann etwas Interessantes und beschäftige mich ausführlich damit. So lange bis ich vergesse, was ich eigentlich gerade gemacht habe.
Es ist auch ganz oft so, dass ich im Wohnzimmer einen Plan habe, und in die Küche gehe, um den Plan auszuführen. Im Flur habe ich dann oft schon vergessen, was ich eigentlich in der Küche vorhatte. Ich sehe dann irgendwas anderes und erledige eine ganz andere Aufgabe.
Manchmal frage ich mich, ob das nicht womöglich erste Anzeichen für eine Demenz sind. Aber dann hätte das alles ja erst in den letzten Jahren auftreten oder zunehmen müssen. Das ist aber nicht der Fall.
Schon mein ganzes Leben lang ging es mir so, dass ich die Aufmerksamkeitsspanne einer Amöbe hatte. Ich erinnere mich an viele Begebenheiten schon in meiner Kindheit, die das demonstriert haben, und das beruhigt mich dann, denn damals konnte es ja definitiv noch keine Demenz sein — und ich bin sehr sicher, es ist in den letzten Jahren nicht schlimmer geworden.
Das bestätigen mir auch alle, die mich schon lange kennen. Die lachen dann einfach nur schallend und sagen mir, dass sie mich schon als zerstreut und verpeilt kennengelernt haben und dass ich mir mal keine Gedanken von wegen Demenz machen soll.
Ich muss sagen, das beruhigt mich, auch wenn ich mich natürlich frage, woran ich den Unterschied merken würde, wenn wirklich mal eine Demenz hinzukommen sollte.“
Einige hilfreiche Strategien
Die Aufmerksamkeitsspanne läßt sich zum Teil in Maßen (!) trainieren. Ansonsten können Sie ausprobieren, ob folgende Strategien für Sie passen:
1. Zeitstrukturierung durch kurze Arbeitsphasen
2. Wechselnde Aufgaben nutzen
3. Visuelle Hilfen einsetzen
4. Aufmerksamkeit durch körperliche Bewegung steigern
5. Belohnungen einbauen
6. Akustische und haptische Reize einsetzen
Exkurs: der Hyperfokus
Als Erwachsene(r) …
Als Kind …
Wenn das alles zutrifft — ist das dann zwingend ADHS?
Nein. Ein ähnliches Phänomen ist auch unter dem Begriff „Flow“ bekannt, wenngleich ein Flow üblicherweise weniger stark ausgeprägt ist. Ein Hyperfokus tritt außerdem häufig auch bei Menschen auf dem Autismusspektrum auf, vor allem, wenn es ihr Spezialinteresse betrifft.
Die Neigung zu einem Hyperfokus kann aber tatsächlich auch bei jedem Menschen auftreten; da nennt man es dann womöglich einfach „Begeisterungsfähigkeit“ oder sagt anerkennend: „Also wenn dich was interessiert, kannst du dich ja komplett reinknien und vergisst alles andere um dich herum!“
ADHS ist eben eine sehr komplexe Diagnose und kann niemals nur aufgrund einzelner Symptome diagnostiziert werden. Bitte dies unbedingt im Auge behalten, wenn jetzt das Phänomen „Hyperfokus bei ADHS“ etwas genauer beschrieben wird.
Ein Hyperfokus ist eine Form der Aufmerksamkeit, bei der Menschen mit ADHS plötzlich trotz Ablenkungen oder äußeren Einflüssen überraschenderweise sehr wohl in der Lage sind, ihre Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Hierfür muss das Thema — meist etwas komplett Neues — sie allerdings stark fesseln und interessieren.
Dann ist jedoch plötzlich eine intensive Konzentration möglich, und im Hyperfokus können sie zur großen Überraschung aller tatsächlich die volle Aufmerksamkeit und Konzentration auf eine bestimmte Aufgabe oder ein bestimmtes Thema richten. Sie sind dabei so vertieft, dass sie unter Umständen gar nicht mehr bemerken, was um sie herum geschieht. Sie vergessen Zeit und Raum und alles um sich herum.
Die Dauer eines derartigen Hyperfokus kann variieren, aber es ist typisch, dass eine Person mit ADHS in dieser Phase auch über ungewöhnlich lange Zeiträume intensiv in eine Aktivität eintauchen kann. Es kann Stunden oder sogar Tage dauern, bevor der Fokus wieder auf etwas anderes gelenkt werden kann.
Während des Hyperfokus können Menschen mit ADHS die Zeit völlig vergessen und teilweise ihre Umgebung ignorieren. Sie sind so in ihre Aktivität vertieft, dass sie alles andere um sich herum ausblenden.
Der Hyperfokus kann dadurch zu erhöhter Produktivität und Leistung führen. Man ist plötzlich in der Lage, komplexe Aufgaben zu bewältigen oder außergewöhnliche Ergebnisse zu erzielen, da man die volle Aufmerksamkeit und Energie darauf richtet — wie im Rausch, und wie im Rausch besteht auch ein Kontrollverlust: im Hyperfokus bestehen üblicherweise große Schwierigkeiten, den Fokus von der aktuellen Aktivität wieder auf etwas anderes zu verlagern. Es kann eine beträchtliche Überwindung erfordern, um die Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken.
Ein Hyperfokus bei ADHS ist durch den Verlust der Kontrolle also nicht immer etwas Positives. Obwohl eine solche Phase durchaus auch Vorteile haben kann, wie eine erhöhte Produktivität, Leistungs- und Lernfähigkeit oder Kreativität, kann es auf der anderen Seite aber eben auch zur Vernachlässigung anderer wichtiger Aufgaben oder sozialer Interaktionen führen.
Es ist daher wichtig, den Hyperfokus ausgewogen zu nutzen und Strategien zur Selbstregulierung zu entwickeln, um die negativen Auswirkungen minimieren zu lernen.
Menschen mit ADHS beschreiben den Hyperfokus zum Beispiel wie folgt:
Christiane, 62 Jahre:
„Ich habe sehr lange gedacht, dass es doch unmöglich sein kann, dass ich ADHS habe, denn das bedeutet doch, dass man sich nicht konzentrieren kann. Das stimmt für mich auch meistens, aber dann gibt es wieder Tage oder vielmehr Nächte, da bin ich hochkonzentriert und vergesse Essen, Trinken, Toilettegehen, da recherchiere ich ein Thema und vergesse alles um mich herum. Da kann mich auch plötzlich nichts und niemand mehr ablenken.
Das war auch schon so, als ich noch ein Kind war, und meine Eltern haben das natürlich auch mitbekommen, und ich musste mir dann immer anhören „Aha, du KANNST also, wenn du wirklich willst. Du WILLST offenbar meistens nur nicht. Wir haben es ja schon immer gewusst, du bist einfach nur faul!“
Aber das stimmt nicht! Ich verstehe es allerdings selbst nicht, warum ich bei manchen Themen praktisch ein ganz anderer Mensch sein kann: hochkonzentriert und supergründlich, stundenlang oder sogar tage- und nächtelang intensiv mit nur einem einzigen Thema beschäftigt, ohne dass auch nur eine Spur von Langeweile aufkommt?! Das bin doch einfach gar nicht ich — aber irgendwie eben doch.
Ich habe deshalb oft selbst gedacht, vielleicht hatten meine Eltern ja recht, und ich könnte mich auch sonst mehr konzentrieren, wenn ich nur wollte, und ich müsste mich eben einfach nur mehr zusammenreißen und mich mehr anstrengen.
Aber das ist es nicht! Ich habe das tatsächlich nicht unter Kontrolle, und das ist auch keine Frage des Wollens. Das weiß ich heute, aber bis hierher war es wirklich ein langer Weg voller Selbstzweifel und Selbstkasteiung.
Heute weiß ich auch, dass diese Phasen der hohen Konzentration bei Themen, die mich wirklich fesseln, Hyperfokus genannt wird, und sehr typisch ist für neurodivergente Menschen, also nicht nur für ADHSler, sondern auch für Autisten.
Von denen kennt man das ja eher, aber es kommt eben auch beim ADHS vor, und leider entsteht dadurch dann das Gerücht, man könne also, wenn man nur wolle.
Aber ich kann den Hyperfokus ebenso wenig bewusst herbeiführen, wie andere Menschen einen Flow herbeiführen können, mit dem der Hyperfokus ja auch eng verwandt sein soll.“
Georg, 41 Jahre:
„Als junger Erwachsener habe ich mich gerne als Scanner-Persönlichkeit beschrieben — das sind ja die Menschen, die in vielen Bereichen begabt und auf viele Arten interessiert sind, aber nirgendwo echter Experte oder total tiefgründig informiert. Ich glaube heute, dass unter jenen Scanner-Persönlichkeiten vermutlich auch ziemlich viele ADHSler sind.
Mich interessieren ganz viele Dinge, und wenn mir da mal wieder etwas Neues, Spannendes unterkommt, dann gerate ich in einen Hyperfokus. Da recherchiere ich oft die ganze Nacht alles über dieses Thema, ich kann dann einfach nicht aufhören und vergesse alles um mich herum. Dieses übermäßige Interesse ist dann üblicherweise am nächsten Tag schon wieder vorbei.
Manchmal hält es aber auch tatsächlich einige Zeit an, und entwickelt sich zu einer neuen Passion, um die sich dann wochenlang oder monatelang, manchmal sogar länger wirklich alles dreht. Alte Interessen oder alte Hobbys sind dann völlig vergessen, und oft greife ich sie dann auch nie wieder auf.
Aber früher oder später — naja, meistens früher — verliere ich dann das Interesse wieder. Zurück bleibt ein weiteres Gebiet, auf dem ich ziemlich gut Bescheid weiß, aber eben nicht wirklich bis in die Tiefe vorgedrungen bin.
So habe ich dann natürlich ein sehr breites Wissen zu allen möglichen und oft auch unmöglichen Themen, und kann bei so vielen Themen mitreden, dass ich dafür auch immer wieder bewundert werde.
Aber ich selbst bin da eher nicht so stolz drauf, ganz im Gegenteil, ich habe eher das Gefühl, überall nur oberflächlich herumzustümpern und eben nie wirklich etwas zu Ende gebracht oder tatsächlich tief durchdrungen zu haben.“
Kriterium Nr. 3: Nicht gut zuhören können
Als Erwachsene(r) …
Als Kind …
Wenn das alles auf Sie zutrifft, haben Sie dann ganz klar ADHS?
Nein. Jeder Paartherapeut kann Ihnen unzählige Geschichten darüber erzählen, wie das mit dem „er/sie hört mir einfach nie zu“ DER Dauerbrenner auf den Stühlen und Sofas seiner Praxis ist. Und seine Klienten haben bei weitem nicht alle ADHS!
Auch Menschen ohne ADHS können Schwierigkeiten mit dem Zuhören haben, können sogar so verträumt oder in Gedanken sein, dass sie gar nicht bemerken, wenn sie angesprochen werden.
Denken Sie einfach an den sprichwörtlichen „zerstreuten Professor“: Wer gerade viele andere Dinge im Kopf hat, wer generell sehr kopflastig und im Geiste mit komplexen Problemlösungen beschäftigt ist, wer ständig in anderen Sphären schwebt, der kann sich in diesem Kapitel womöglich sehr gut wiederfinden. Oder bekommt es womöglich sogar von seiner besseren Hälfte als Wink mit dem Zaunpfahl aufgeschlagen auf das Kopfkissen gelegt.
Ein Beweis für ADHS ist das aber noch lange nicht — höchstens einer von vielen, vielen weiteren notwendigen Hinweisen. Daran bitte denken, wenn nun einige ADHSler aus ihrem Alltagsleben und aus ihrer Kindheit berichten, um die trockenen Symptome der offiziellen Kriterienkataloge ein wenig mit Leben zu füllen:
Annette, 48 Jahre:
„Mein Spitzname als Kind war Träumerle, ich habe ständig aus dem Fenster geschaut und war in meiner eigenen Welt und völlig in meine Gedanken versunken. Ich habe dann nichts mehr mitbekommen, auch nicht, wenn ich angesprochen wurde.
Ich war dabei so komplett abwesend, dass der Kinderarzt mich sogar mal in eine Kinderklinik überwiesen hat, weil er Epilepsie ausschließen wollte. Naja, Epilepsie war es nicht. Und an ADHS hat damals einfach noch niemand gedacht, schon gar nicht, wenn der hyperaktive Teil kaum ausgeprägt war.
Hinzu kommt, dass es früher sowieso die Lehrmeinung der Kinderärzte war, dass Mädchen gar kein ADHS bekommen können, sondern dass dies ausschließlich Jungen betrifft. Damals dachte man ja außerdem noch, ADHS wächst sich raus, und käme im Erwachsenenalter grundsätzlich nicht mehr vor.
Na ja, jedenfalls haben sich dann meine Eltern und meine Lehrer den Kopf darüber zerbrochen, was denn nicht mit mir stimmen könnte. Mit dem Ohrenarzt haben sie angefangen, dann kam wie gesagt der Kinderneurologe und die Epilepsie-Klinik, und als dann niemand etwas gefunden hat, hieß es, ich wäre eben einfach nur verträumt und wahrscheinlich auch etwas schüchtern.
Aber dazu hat dann eben gar nicht gepasst, dass ich auch ganz schön laut war, und den Erwachsenen wohl auch ganz schön auf die Nerven gehen konnte.
Also hieß es dann, ich sei wahrscheinlich doch einfach nur faul und würde nur so tun, als würde ich nicht hören, wenn jemand eine Aufgabe für mich hatte und ich auf diese Aufforderung eben wieder mal einfach nicht reagiert habe.
In meiner Familie hieß es dann immer „sie macht das sehr geschickt, genau wie die Tante Gretel, die hört auch immer nur das, was sie hören will!“
Ich fand das schon damals wirklich ungerecht. Man warf mir vor, ich würde nie zuhören, aber wenn ich dann erklären wollte, wie das für mich ist und was dabei tatsächlich in mir vorgeht, dann hörte MIR keiner zu.“
Sabine, 29 Jahre:
„Keine Ahnung, wie oft man mir schon vorgeworfen hat, dass ich einfach nicht zuhöre. Ich habe in manchen Situationen offenbar wirklich so eine Art von Blackout, denn ich kann mich dann an manche Einzelheiten oder sogar an ganze Gespräche einfach nicht mehr erinnern.
Ich fühle mich sehr verwundbar, wenn so etwas passiert, denn ich muss dann auf mein Gegenüber vertrauen, dass das Gespräch wirklich so stattgefunden hat, oder dass ich einen bestimmten Satz wirklich so gesagt habe. Denn ich erinnere mich einfach nicht daran. Es ist wie ein Filmriss!
Natürlich wirft man mir auch oft vor, dass ich nur höre, was ich hören will, aber das hat damit nichts zu tun. Ich würde womöglich auch nicht hören, wenn mir jemand mitteilt, dass ich eine Million im Lotto gewonnen hätte oder mir sogar einen Heiratsantrag macht.
Es hat einfach nur damit zu tun, wo meine Gedanken gerade sind und ob ich gerade wieder mal abgelenkt bin.
Es scheint manchmal so zu sein, als hätte ich einen automatischen Anrufbeantworter im Kopf. Der übernimmt dann, wenn ich gedanklich gerade wieder mal abwesend bin: Ein Telefonat kommt rein, und der Anrufbeantworter setzt ein, mit meiner Stimme. Aber er sagt eben nicht, dass ich nicht da bin, und dass man nach dem Piepton eine Nachricht aufsprechen soll. Sondern der Anrufbeantworter imitiert mich perfekt, sagt an den passenden Stellen „ja“ und „nein“ und „hm“.
Aber dabei nimmt er weder das Gespräch noch eine Nachricht auf, er ist einfach nur eine Attrappe, und mein Gesprächspartner denkt, er habe mit mir gesprochen.
Und ich bin geistig gar nicht dabei und weiß von nichts, wenn ich darauf angesprochen werde. Das kann ganz schön peinlich sein. Und hat mich auch schon oft in erhebliche Schwierigkeiten gebracht.“
Stephan, 35 Jahre:
„Ich kann keine normale Unterhaltung führen wie andere Menschen. Wenn die etwas erzählen, dann ist das eine gerade Linie von A nach B. Bei mir ist es eher so eine Art Labyrinth.
Ich starte bei A, schwadroniere dann ohne Punkt und Komma über tausend Umwege und schweife zigmal ab, bevor ich dann mit ganz viel Glück irgendwann bei B lande.
Oder oft auch eben nicht, weil ich zwischendurch dann komplett den roten Faden verliere, der ohnehin die ganze Zeit schon ziemlich unsichtbar war.
Aber wenn ich Pech habe, verschwindet er im Laufe der Erzählung dann komplett, und ich habe dann nicht nur vergessen, dass ich auf B hinauswollte, ich habe sogar komplett vergessen, dass ich bei A gestartet bin, geschweige denn den Weg, den ich seither genommen habe. Ich habe mich dann wieder mal hoffnungslos in meinen eigenen Gedankengängen verlaufen.“
Alex, 26 Jahre:
„In der Grundschule hatte ich ganz besonderen Horror vor den sogenannten Lauf-Diktaten. Die funktionierten so, dass man nach vorne zum Lehrerpult laufen musste, dort bekam man dann einen Satz diktiert. Diesen Satz sollte man sich merken, dann zu seinem Platz zurückgehen und den Satz aufschreiben.
Ich hatte bei diesen Lauf-Diktaten nicht die geringste Chance, denn egal, wie verzweifelt ich das auch versucht habe, schon auf dem Weg zurück hatte ich meinen Satz vergessen.
Und dann saß ich wieder auf meinem Platz, wusste nicht, was ich schreiben soll, und kämpfte mit den Tränen.
Die gleiche Deutschlehrerin hat uns auch gerne Nacherzählungen schreiben lassen: Sie hat uns eine Geschichte vorgelesen, und die sollten wir dann in Form eines Aufsatzes nacherzählen und zusätzlich dann noch verschiedene Fragen dazu beantworten. Das war für mich echt nicht im Geringsten machbar.
Seit jener Zeit verfalle ich in eine Art Schreckstarre oder Panikattacke, wenn mir jemand etwas erzählt oder eine rein mündliche Aufgabenstellung gibt, und wenn ich weiß, das muss ich mir jetzt merken und anschließend entsprechend handeln. Weil ich das einfach nicht kann.“
Bianca, 23 Jahre:
„Oft schalte ich während längerer Konversationen automatisch ab oder bin gedanklich ganz woanders, vor allem wenn die Gespräche mich nicht wirklich interessieren.
Ob sie wichtig sind oder nicht, das scheint meinem Gehirn zweitrangig zu sein, es scheint ihm nur darum zu gehen, ob ich die Gespräche interessant finde. Wenn nicht, dann fährt mein Hirn irgendwie komplett runter.
Dies führt dann dazu, dass ich Arbeitsanweisungen nicht zuverlässig umsetzen kann, da ich oft auch nicht noch einmal nachfragen will. Denn ich habe oft genug die Erfahrung gemacht, dass Nachfragen nicht gut ankommt.
Zumal ich ja nicht sagen könnte: „Sorry, ich habe das gerade nicht richtig verstanden“, sondern ich müsste sagen: „Sorry, ich habe seit etwa 5 Minuten gar nicht mehr zugehört, worum ging es noch mal?“
Was auch oft vorkommt ist, dass mir wichtige Informationen mitgeteilt werden, die ich in dem Moment dann aber nicht wirklich aufnehme oder ziemlich schnell wieder vergesse, da ich dem Gespräch einfach nicht so viel Aufmerksamkeit schenken kann, wie es notwendig wäre.
Es kann dann auch dazu kommen, dass meine Gesprächspartner irritiert sind, oder teilweise eben auch ziemlich genervt, wenn sie bemerken, dass ich nur zum Teil zuhöre.
Es wird dann oft falsch interpretiert, eben dass mein gedankliches Abschweifen etwas Persönliches sei, eben mangelndes Interesse, was aber nicht zutrifft.
Oder in der Schule hieß es oft, dass ich eben einfach nur faul und undiszipliniert sei, wenn ich nicht wirklich zuhöre, was immer wieder zu Ermahnungen geführt hat“.
Einige hilfreiche Strategien
Zuhören kann man üben und lernen — sogar mit ADHS. Und das Gute ist, weil ich neurotypische Menschen beim Zuhören oft nicht besonders gut Sinn, gibt es für diesen Bereich besonders viele Seminare, Kurse und Angebote. Starten Sie für den Anfang einfach mit den nachfolgenden Strategien; sie können helfen, den eigenen Fokus auf das Zuhören zu stärken und aktiv ins Gespräch einzutauchen, ohne durch innere Gedanken oder Reize abzudriften.
1. Aktives Zuhören üben