Könnte es wirklich Autismus sein?


Über 1000 Symptom-Beispiele zu den offiziellen Diagnosekriterien



Dr. med. Barbara Gorißen







Impressum:


Dr. med. Barbara Gorißen

Herbachstraße 12

55262 Ingelheim


www.Praxis-Dr-Gorissen.de

barbara.gorissen@proton.me


Copyright 2. Auflage: Dr. Barbara Gorißen 2025; Alle Rechte vorbehalten

Herstellung durch Amazon Distribution GmbH

ISBN: 9798310420052

Imprint: Independently published


Autorin: Gesetzliche Berufsbezeichnung Ärztin. Berufsbezeichnung verliehen in der Bundesrepublik Deutschland. Es besteht die Facharztbezeichnung Innere Medizin, nach Weiterbildung und Prüfung verliehen von der Landesärztekammer Hessen. Die Zusatzbezeichnungen fachbezogene Psychotherapie, Palliativmedizin und Notfallmedizin wurden ebenfalls von der Landesärztekammer Hessen verliehen.

Zuständige Ärztekammer/Aufsichtsbehörde: 

Bezirksärztekammer Rheinhessen





Inhaltsverzeichnis

Vorwort oder: Was ist Autismus? Eine Einführung ins Thema

A. Was ist ein Spektrum? Die Vielfalt von Autismus

B. Diagnosekriterien vs. „lebendige“ Symptome

C. Ziel und Aufbau des Buches

Abschnitt 1: Einführung in die Diagnostik

1. Leitlinie und Klassifikationssysteme — worauf sich die Diagnostik stützt

A. S3-Leitlinien – die Königsklasse der Empfehlungen

B. Die Autismus-Leitlinie – ein Update ist überfällig

2. Autismus-Diagnostik nach ICD-11 und DSM 5

A. Was ist ICD-11 uns DSM 5?

B. Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Abschnitt 2: Über 1000 Symptombeispiele für die Diagnosekriterien

1. Schwierigkeiten bei sozialer Gegenseitigkeit

A. Probleme im Kontext von Gesprächen

Probleme, Gespräche am Laufen zu halten

Mangelndes Interesse und Schwierigkeiten mit Smalltalk

Oversharing

Infodumping

Gespräche dominieren, ohne es zu merken

Überforderung durch Gruppengespräche

Besonderheiten bei Mädchen und Frauen

B. Sprache und Verständnis

Wörtliches Verständnis von Sprache

Schwierigkeiten, indirekte Aussagen zu verstehen

Missverstehen von Scherzen oder Neckereien

Selbst kaum Witze oder Scherze machen

Überwältigung durch zu viele Informationen

Probleme mit abstrakten Konzepten

Fokus auf Fakten statt Emotionen

Besonderheiten bei Mädchen und Frauen

C. Schwierigkeiten mit der Theorie of Mind

Kurze Einführung in die Theory of Mind (ToM)

Schwierigkeiten, die Gefühle anderer zu erkennen

Probleme mit Perspektivwechsel

Missverständnisse bei emotionalen Kontexten

Unfähigkeit, Absichten anderer zu antizipieren

Schwierigkeiten, unausgesprochene Regeln zu erkennen

Besonderheiten bei Mädchen und Frauen

2. Schwierigkeiten mit nonverbaler Kommunikation

A. Schwierigkeit, nonverbale Signale zu deuten

Probleme mit Mimik

Probleme mit Gestik

Probleme mit dem Tonfall

Übersehen von Blickkontakt-Signalen

Probleme mit Körperhaltung und -distanz

Unsicherheit bei symbolischer Kommunikation

Probleme mit der Kombination nonverbaler Signale

Besonderheiten bei Mädchen und Frauen

B. Probleme mit Augenkontakt

Vermeidung von Augenkontakt

Zu intensiver Augenkontakt

Unsicherheit in Gruppensituationen

Sensorische Überforderung durch Blickkontakt

Bewusste Kompensation durch alternative Strategien

Schwierigkeiten, Blicke zu interpretieren

Besonderheiten bei Mädchen und Frauen

C. Mimik und Gestik des Autisten

Ungewöhnliche Nutzung von Mimik und Gestik

Ausdruckslose oder monotone Mimik

Bewusstes „Masking“ von nonverbalen Signalen

Rituale statt spontaner Gestik

Schwierigkeiten, nonverbale Signale zu initiieren

Unsicherheit wieviel Gestik angemessen ist

Besonderheiten bei Mädchen und Frauen

3. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensweisen und Interessen

A. Stereotype Bewegungen (z. B. Stimming)

Handflattern, Schaukeln, Springen.

Fingerverdrehen, Klopfen, Reiben

Gegenstände zum Stimming nutzen (z. B. Fidget Toys)

Stimming als Strategie zur Emotionsregulation

Vokale oder visuelle Stimming-Muster

Rituale beim Stimming

Schwierigkeiten, Stimming zu unterdrücken

Folgen bei Unterdrückung von Stimming

Besonderheiten bei Mädchen und Frauen

B. Spezielle, intensive Interessen

Tiefes Eintauchen in Spezialinteressen

Starke Fokussierung auf Details

Hohe Ausdauer und Wissenstiefe

Probleme mit Flexibilität außerhalb des Interesses

Schwierigkeiten, das Interesse mit anderen zu teilen

Veränderungen der Interessen im Lebensverlauf

Besonderheiten bei Mädchen und Frauen

C. Routinen und Widerstand gegen Veränderung

Strikte Tagesabläufe

Schwierigkeiten bei Übergängen oder Veränderungen

Emotionale Reaktionen auf Abweichungen

Ritualisierte Abläufe in Alltagssituationen

Schwierigkeiten mit spontanen Planänderungen

Verwirrung durch unklare Zeitpläne

Besonderheiten bei Mädchen und Frauen

4. Sensorische Besonderheiten

A. Erhöhte Empfindlichkeit auf Reize

Überempfindlichkeit gegenüber lauten Geräuschen

Reizüberflutung durch mehrere Geräusche gleichzeitig

Unwohlsein durch bestimmte Lichtquellen

Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Textilien

Überreaktion auf Berührungen

Geruchsempfindlichkeit

Überreaktion auf Temperaturunterschiede

Sensorische Überforderung in sozialen Situationen

Besonderheiten bei Mädchen und Frauen

B. Hyposensitivität (Unterempfindlichkeit)

Schmerzunempfindlichkeit

Suche nach starken sensorischen Reizen

Fehlende Reaktion auf Umweltreize

Spätes Erkennen von Hunger oder Durst

Geringe Reaktion auf soziale Berührungen

Schwierigkeiten, subtile Reize wahrzunehmen

Besonderheiten bei Mädchen und Frauen

C. Besonderheiten im sensorischen Reizverhalten

Kombination aus Hyper- und Hyposensitivität

Ungewöhnliches Interesse an sensorischen Erlebnissen

Strategien zur Reizregulierung

Übermäßiges Fixieren auf bestimmte Reize

Unruhe bei sensorischer Unterreizung

Schwierigkeiten, sich von Reizen abzuwenden

Besonderheiten bei Mädchen und Frauen

6. Entwicklung und frühe Anzeichen bei Kindern

A. Besonderheiten der Sprachentwicklung

Später Sprachbeginn

Echolalie oder atypische Sprachmuster

Schwierigkeiten mit Fragen oder Dialogen

Begrenztes Vokabular in sozialen Situationen

Verstehen vs. Anwenden von Sprache

Probleme mit Sprachmelodie oder -rhythmus

Besonderheiten bei Mädchen

B. Besonderheiten im Spielverhalten

Repetitives Spiel oder Ordnungsmuster

Wenig symbolisches oder kooperatives Spiel

Bevorzugung bestimmter Materialien

Interesse an komplexen, nicht altersgerechten Themen

Schwierigkeiten mit Gruppenaktivitäten

Probleme, Spielregeln flexibel anzuwenden

Besonderheiten bei Mädchen

C. Schwierigkeiten mit sozialem Lernen

Probleme mit Nachahmung

Geringe Anpassung an soziale Regeln

Schwierigkeiten, aus Beobachtung zu lernen

Konflikte mit Peers durch andere Spielweisen

Probleme mit dem Erlernen von Kompromissen

Geringes Verständnis für soziale Konsequenzen

Besonderheiten bei Mädchen

Ausblick: Symptome aus Forschung und Community





Vorwort oder: Was ist Autismus? Eine Einführung ins Thema


Autismus ist eine neurodivergente Entwicklungsbesonderheit, die sich auf die Wahrnehmung, das Denken und das Verhalten von Menschen auswirkt. Oft wird Autismus als eine „andere Art, die Welt zu erleben“ beschrieben. Menschen im Autismus-Spektrum nehmen Reize intensiver oder anders wahr, denken oft analytischer und haben häufig Schwierigkeiten, sich an die sozialen Erwartungen ihrer Umgebung anzupassen.

Trotz seiner Herausforderungen bringt Autismus auch viele Stärken mit sich: die Fähigkeit, sich tief in Spezialinteressen zu vertiefen, analytische Probleme zu lösen oder Details wahrzunehmen, die anderen entgehen. Doch was Autismus genau bedeutet, lässt sich nicht pauschal beantworten, denn: Autismus ist ein Spektrum.


A. Was ist ein Spektrum? Die Vielfalt von Autismus

Der Begriff „Spektrum“ zeigt, dass Autismus sich in einer enormen Vielfalt äußert. Jeder Autist ist anders. Manche Menschen im Spektrum sind nonverbal, andere sind wortgewandt. Einige haben eine überdurchschnittliche Intelligenz, während andere Unterstützung im Alltag benötigen. Es gibt Menschen, die stark von sensorischen Reizen überfordert sind, und andere, die scheinbar unerschütterlich wirken.

Diese Vielfalt sorgt nicht nur für Missverständnisse in der Gesellschaft, sondern auch dafür, dass Autismus in der Diagnostik oft übersehen wird – insbesondere bei Frauen und Mädchen. Viele Symptome sind subtil oder werden durch Anpassung (Masking) verborgen, wodurch sie selbst Fachleuten entgehen können.

Dieses Buch möchte dazu beitragen, die Vielfalt von Autismus besser zu verstehen und sich von starren Vorstellungen zu lösen.

B. Diagnosekriterien vs. „lebendige“ Symptome

Die offiziellen Diagnosekriterien, wie sie in den großen Klassifikationssystemen beschrieben werden, sind wichtige Werkzeuge, um Autismus zu erkennen. Sie bieten eine wissenschaftliche Grundlage und strukturierte Orientierung. Doch sie bleiben oft vage und allgemein.

In der Praxis begegnet man jedoch unzähligen „lebendigen“ Symptomen, die im Alltag autistischer Menschen eine zentrale Rolle spielen. Diese Symptome reichen von typischen Verhaltensweisen, wie dem Vermeiden von Augenkontakt, bis hin zu unscheinbaren Details, wie einem starken Bedürfnis nach Routinen. Diese lebendigen Symptome sind oft nur indirekt in den Diagnosekriterien erwähnt, spiegeln jedoch die Realität autistischer Menschen wider.

Dieses Buch hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Kluft zu schließen. Es verbindet die wissenschaftliche Grundlage der Diagnosekriterien mit der Lebensrealität der autistischen Community. Die Symptome werden durch anschauliche Beispiele erläutert, die Betroffenen und Fachleuten helfen, Autismus besser zu verstehen.


C. Ziel und Aufbau des Buches

Dieses Buch richtet sich an alle, die Autismus besser verstehen möchten – sei es, weil sie selbst im Spektrum sind, weil sie einen Angehörigen unterstützen oder weil sie in einem helfenden Beruf arbeiten.

Nach einer kurzen Vorstellung der beiden großen Klassifikationssysteme widmet sich das Buch ausschließlich den Symptomen. Diese sind thematisch gruppiert, praxisnah beschrieben und mit Beispielen aus dem Alltag ergänzt. Die Vielfalt der Symptome spiegelt die Vielfalt von Autismus wider.

Die Idee dahinter ist, dass sich Betroffene in den Beispielen wiedererkennen können und Fachleute Anregungen für ihre Diagnostik und Therapie erhalten. Gleichzeitig soll das Buch mit den Beispielen auch das Verständnis für Autismus in der Gesellschaft stärken.

Ich habe bei den Beispielen in Buch in jedes Unterkapitel einen eigenen Unterpunkt „Besonderheiten bei Mädchen und Frauen“ hinzugefügt, da bei diesen die Diagnostik oft besonders schwierig ist, denn sie versuchen sich meist schon seit frühester Kindheit an die Erwartungen, die von neurotypischen Menschen an sie stellt, anzupassen und ihr Anderssein zu verstecken. Dies funktioniert meist recht gut — zu dem Preis großer Erschöpfung, dem Gefühl „nicht richtig“ zu sein und einem reduzierten Selbstwertgefühl. 

Bei den Beispielen außerhalb der Unterpunkte „Besonderheiten bei Mädchen und Frauen“ verwende ich außen Gründen der Lesbarkeit meist die männliche Form „Autist“. In den beschrieben Beispielen werden sich aber sicher auch viele Autistinnen wiedererkennen und sind natürlich auch mit angesprochen.

Die meisten Betroffenen ziehen es im übrigen vor, als Autistin oder Autist bezeichnet zu werden, da sie es als Teil ihrer Identität sehen, und nicht als „Person mit Autismus“, als ob es eine Krankheit oder Störung wäre, wie es in der offiziellen Diagnose „Autismusspektrum-Störung“ ja leider pathologisiert wird. Die Idee der Neurodivergenz — also einfach abweichend „verkabelter“ Neuronen als Normvariante — wird daher in der wachsenden und erfreulicherweise zunehmend selbstbewußten Autismus-Community bevorzugt verwendet.

Ich lade Sie in diesem Buch ein, Autismus auf eine neue Weise zu entdecken – durch eine Kombination aus Wissenschaft und Leben, Theorie und Praxis, Regeln und Ausnahmen.

Ich hoffe, dieses Buch hilft Ihnen, die Welt aus einer neuen Perspektive zu sehen und die Vielfalt autistischer Menschen besser zu verstehen.

Viel Freude beim Lesen!


Ingelheim, im März 2025

Dr. med. Barbara Gorißen



Abschnitt 1: Einführung in die Diagnostik 


1. Leitlinie und Klassifikationssysteme — worauf sich die Diagnostik stützt


Wenn man über medizinische Diagnosen und Behandlungen spricht, fällt schnell der Begriff „Leitlinie“. Doch was genau ist das eigentlich?

Leitlinien sind Empfehlungen, die Ärztinnen und Ärzte sowie andere Fachpersonen dabei unterstützen sollen, Diagnosen und Behandlungen auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft durchzuführen. Sie basieren auf systematisch ausgewerteten Forschungsergebnissen, klinischer Erfahrung und Expertenkonsens. Kurz gesagt: Leitlinien sind der Kompass im oft ganz schön unübersichtlichen Dschungel medizinischer Möglichkeiten.



A. S3-Leitlinien – die Königsklasse der Empfehlungen

Nicht alle Leitlinien sind gleich. Es gibt unterschiedliche Stufen, die sich danach richten, wie umfassend sie entwickelt wurden. Eine S3-Leitlinie, wie die für Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), gehört zur höchsten Stufe. Sie wird nicht von einzelnen Personen oder Organisationen erstellt, sondern interdisziplinär von Expertengruppen, die sich intensiv mit der jeweiligen Thematik auseinandersetzen.

Die Entwicklung einer S3-Leitlinie folgt strengen methodischen Vorgaben, darunter:

  • Die systematische Sichtung und Bewertung von Studien.
  • Die Einbeziehung von Fachgesellschaften und Vertretern verschiedener Berufsgruppen.
  • Die Konsensfindung in großen, teils kontroversen Diskussionen.


S3-Leitlinien sind damit wissenschaftlich fundiert und praxisnah zugleich. Sie dienen nicht nur als Orientierung für Fachleute, sondern bieten auch Patientinnen und Patienten eine verlässliche Grundlage, auf der sie Entscheidungen über Diagnostik und Therapie treffen können.


B. Die Autismus-Leitlinie – ein Update ist überfällig 

Die S3-Leitlinie zur Diagnostik von Autismusspektrum-Störungen (ASS) wurde zuletzt 2016 veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt war sie ein Meilenstein, der erstmals klare Kriterien und Empfehlungen zusammenfasste. Doch Leitlinien sind keine in Stein gemeißelten Dokumente. Sie müssen regelmäßig überarbeitet werden, um mit dem Fortschritt in Forschung und Praxis Schritt zu halten. Leider ist die Diagnostik-Leitlinie für ASS seit 2021 offiziell abgelaufen und wird derzeit überarbeitet.

Das bedeutet natürlich nicht, dass Diagnosen von Autismus-Spektrum-Störungen ins Leere laufen. Die internationale Fachwelt stützt sich weiterhin auf die aktuell gültigen Kriterien der beiden üblichen Klassifikationssysteme. Diese beiden Systeme bilden die Grundlage für die Diagnostik und sind auch der Standard, den ich in diesem Buch verwende.

Die deutsche S3-Leitlinie zur Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) orientiert sich an den internationalen Klassifikationssystemen ICD-11 und DSM-5. Sie betont die Bedeutung einer frühzeitigen Diagnose, idealerweise im Vorschulalter, um frühzeitige Fördermaßnahmen und die Planung des Schulbesuchs zu ermöglichen. 

Die Leitlinie hebt hervor, dass die Diagnosestellung auf einer umfassenden klinischen Beurteilung basieren sollte, die Informationen aus verschiedenen Quellen einbezieht, darunter:

  • Anamnese: Detaillierte Erfassung der Entwicklungs- und Verhaltensgeschichte des Kindes.
  • Verhaltensbeobachtung: Systematische Beobachtung des Kindes in unterschiedlichen Kontexten.
  • Standardisierte diagnostische Instrumente: Einsatz von validierten Screening- und Diagnosetools, um die diagnostische Genauigkeit zu erhöhen.

Zudem wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, komorbide Störungen zu identifizieren und in die Diagnostik einzubeziehen, da diese den Verlauf und die Therapie der ASS beeinflussen können.

Es wird empfohlen, die Diagnostik interdisziplinär durchzuführen, wobei Fachkräfte aus Medizin, Psychologie, Pädagogik und weiteren relevanten Bereichen zusammenarbeiten sollten, um eine ganzheitliche Beurteilung zu gewährleisten.

Die Leitlinie betont auch die Bedeutung der Aufklärung und Beratung von Eltern und Bezugspersonen während des diagnostischen Prozesses, um ein besseres Verständnis und einen angemessenen Umgang mit der Störung zu fördern.

Für detaillierte Informationen und spezifische diagnostische Kriterien wird auf die vollständige Leitlinie verwiesen. 

2. Autismus-Diagnostik nach ICD-11 und DSM 5


A. Was ist ICD-11 uns DSM 5?

Die Diagnosekriterien für Autismusspektrumstörungen orientieren sich — wie erläutert auch in der Leitlinie — an den Definitionen der International Classification of Diseases (ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2019) und dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) der American Psychiatric Association (APA, 2013). Beide Klassifikationssysteme beschreiben wesentliche Kernbereiche der Störung, die in sozialen, kommunikativen und verhaltensbezogenen Bereichen zu spezifischen Beeinträchtigungen führen.

In der ICD-11 wird die Autismusspektrumstörung als eine einzelne Diagnose aufgeführt. 

Die wesentlichen Kriterien umfassen:

1. Beeinträchtigung in sozialen Interaktionen und Kommunikation:

• Schwierigkeiten in der sozialen Gegenseitigkeit (z. B. Schwierigkeiten, Beziehungen aufzubauen oder zu verstehen).

• Probleme bei der verbalen und nonverbalen Kommunikation (z. B. abweichender Blickkontakt, Probleme mit Gestik oder Intonation).

2. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensweisen, Interessen oder Aktivitäten:

• Stereotype oder repetitive Bewegungen, Sprache oder Nutzung von Objekten.

• Rigides Festhalten an Routinen oder ritualisiertes Verhalten.

• Intensive, eingeschränkte Interessen.

• Über- oder Unterempfindlichkeit gegenüber sensorischen Reizen (z.B. Licht, Geräusche, Texturen).

3. Frühes Auftreten:

• Die Symptome müssen sich bereits in der frühen Kindheit zeigen, auch wenn sie später erst deutlich erkennbar werden können (z. B. im Schulalter).

4. Beeinträchtigung „zu funktionieren“:

• Die Symptome führen zu bedeutsamen Einschränkungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Lebensbereichen.

Das DSM-5 betrachtet ASS als ein Spektrum mit unterschiedlichen Schweregraden und fasst die früher getrennten Diagnosen (z.B. Asperger-Syndrom) zusammen. Die Kriterien umfassen:

1. Dauerhafte Defizite in sozialer Kommunikation und sozialen Interaktionen (alle drei Punkte müssen erfüllt sein):

• Probleme mit der sozialen Gegenseitigkeit (z. B. abweichende soziale Annäherung, mangelndes Interesse an sozialen Interaktionen).

• Defizite in der nonverbalen Kommunikation (z. B. eingeschränkte Gestik, Mimik oder Körpersprache).

• Schwierigkeiten beim Aufbau, Aufrechterhalten und Verstehen von Beziehungen.

2. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten (mindestens zwei der folgenden müssen erfüllt sein):

• Stereotype oder repetitive Bewegungen, Sprache oder Nutzung von Objekten.

• Starke Bindung an Routinen, ritualisiertes Verhalten oder Widerstand gegen Veränderungen.

• Intensive und stark eingegrenzte Interessen, die ungewöhnlich in ihrer Intensität oder ihrem Fokus sind.

• Hyper- oder Hyposensitivität gegenüber sensorischen Reizen oder ungewöhnliches Interesse an sensorischen Aspekten der Umgebung (z. B. Gerüche, Geräusche, Texturen).

3. Frühkindlicher Beginn:

• Symptome müssen in der frühen Entwicklungsphase vorhanden sein (können jedoch durch kompensatorische Strategien erst später offensichtlich werden).

4. Klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen:

• Die Symptome führen zu erheblichen Beeinträchtigungen im sozialen, schulischen oder beruflichen Bereich.

5. Differentialdiagnose:

• Die Symptome können nicht besser durch eine intellektuelle Entwicklungsstörung oder globale Entwicklungsverzögerung erklärt werden.


B. Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Beide Systeme fokussieren auf soziale und kommunikative Beeinträchtigungen sowie auf repetitive Verhaltensmuster und sensorische Besonderheiten.:

Das DSM-5 hat eine genauere Auflistung der Schweregrade und fokussiert stärker auf die klinische Beurteilung der Symptome.

Die ICD-11 ist oft allgemeiner formuliert und eher für die Anwendung im internationalen Kontext gedacht.

Dieses Buch wird in den folgenden Abschnitten die Diagnosekriterien nun Symptom für Symptom mit Leben füllen — durch über 1000 Symptombeisspiele, die sehr anschaulich zeigen, wie Autisten denken und fühlen. Insbesondere soll auch beleuchtet werden, wie sich die Diagnosekriterien von ICD-11 und DSM5 bei Mädchen und Frauen darstellen, bei denen Autismus aufgrund ihres besseren „Maskings“ leider immer noch oft übersehen wird.

Ich bitte dabei auch immer den Spruch zu berücksichtigen, den man oft in der Autismus-Community in den Sozialen Medien hört: „Kennst Du einen Autisten, kennst Du EINEN Autisten.“ Autismus ist ein sehr breites Spektrum, wie bei der Lektüre dieses Buches klar werden wird. Es müssen bei weitem nicht alle nachfolgend vorgestellten Symptombeispiele zutreffen, damit eine Autismus-Diagnose gestellt werden kann. Und viele der vorgestellten Symptombeispiele können auch bei Nicht-Autisten auftreten. Das macht die Diagnostik auch so komplex und zeitaufwändig


Abschnitt 2: Über 1000 Symptombeispiele für die Diagnosekriterien


1. Schwierigkeiten bei sozialer Gegenseitigkeit


Kommen wir also zum ersten Punkt, der in beiden Kriterienkatalogen als Diagnosekriterium verlangt wird: „Schwierigkeiten bei sozialer Gegenseitigkeit“. 

Was ist damit gemeint? 

Im folgenden habe ich einmal in verschiedenen thematischen Bereichen typische Symptome und Symptom-Beispiele für diese Kategorie zusammengetragen, die ich jeweils näher erläutere.


A. Probleme im Kontext von Gesprächen


Probleme, Gespräche am Laufen zu halten

Autisten fühlen sich besonders in Gesprächen mit Menschen, die sie nicht gut kennen, oft unsicher. Dies liegt daran, dass sie Gesprächsregeln und -dynamiken nicht intuitiv erfassen können. Was für neurotypische Menschen selbstverständlich ist – etwa eine Begrüßung mit einer kleinen Floskel oder das Stellen einer Gegenfrage – muss von Autisten mühsam erlernt und bewusst angewendet werden. Gespräche wirken dadurch oft steif oder verkrampft, was beide Seiten verunsichern kann.

Beispiele:

  • Probleme, ein Gespräch zu beginnen. Beispiel: Ein Autist möchte sich mit einem Kollegen unterhalten, weiß aber nicht, wie er das Gespräch starten soll, da ihm scheinbar „passende“ Themen fehlen. Stattdessen bleibt er still und hofft, angesprochen zu werden.
  • Schwierigkeit mit Floskeln. Beispiel: Auf die Frage „Wie geht’s?“ antwortet der Autist korrekt, etwa mit „Gut“, stellt aber keine Gegenfrage wie „Und dir?“, weil er nicht weiß, dass dies erwartet wird. Das Gespräch stockt daraufhin.
  • Unbeholfenheit beim Übergang zu neuen Themen. Beispiel: Ein Autist führt ein Gespräch über das Wetter, möchte aber über ein anderes Thema sprechen, schafft es jedoch nicht, einen fließenden Übergang zu finden, und beendet das Gespräch stattdessen abrupt.
  • Angst vor Ablehnung. Beispiel: Ein Autist möchte sich bei einem Gruppenessen in die Unterhaltung einbringen, fürchtet aber, dass sein Beitrag nicht passend oder erwünscht ist, und bleibt daher stumm.
  • Schwierigkeiten, das Gespräch lebendig zu halten. Beispiel: Nachdem ein Thema erschöpft ist, weiß der Autist nicht, wie er das Gespräch weiterführen kann, und es entsteht eine unangenehme Pause.
  • Mangelndes Gespür für Gesprächsfluss. Beispiel: Ein Autist spricht über ein Thema, ohne zu merken, dass es den anderen nicht interessiert, und wartet nicht auf Reaktionen oder Einwürfe, die das Gespräch lebendiger machen könnten.
  • Probleme, die richtige Begrüßung zu finden. Beispiel: Ein Autist betritt einen Raum voller Kollegen, weiß nicht, ob er „Hallo“ sagen, jedem die Hand geben oder direkt zum Thema übergehen soll, und wirkt dadurch distanziert oder unhöflich.
  • Unklarheit über geeignete Themen. Beispiel: Ein Autist möchte mit einem Nachbarn ins Gespräch kommen, kann aber nicht einschätzen, ob das Wetter, ein gemeinsames Hobby oder etwas Persönliches als Einstieg geeignet wäre.
  • Schwierigkeiten mit Gesprächspausen. Beispiel: Nach einer Pause im Gespräch wartet der Autist darauf, dass der andere ein neues Thema aufbringt, statt selbst die Initiative zu ergreifen.
  • Übermäßiges Nachdenken über Formulierungen. Beispiel: Der Autist überlegt lange, wie er eine Frage richtig stellen kann, bis der passende Moment im Gespräch bereits vorbei ist.
  • Schwierigkeit, Interesse zu signalisieren. Beispiel: Während der Gesprächspartner von seinem Urlaub erzählt, gibt der Autist nur kurze Antworten wie „Oh“ oder „Interessant“, ohne weiter nachzufragen, was das Gespräch ins Stocken bringt.
  • Unbeabsichtigtes Ende eines Gesprächs. Beispiel: Ein Autist beantwortet eine Frage mit „Ja“ oder „Nein“ und erkennt nicht, dass der andere auf eine längere Antwort oder einen Anschluss wartet, sodass das Gespräch abrupt endet.

Die Schwierigkeiten, ein Gespräch zu beginnen oder am Laufen zu halten, sind für viele Autisten eine der größten Herausforderungen im sozialen Miteinander. Sie resultieren oft aus dem fehlenden Gespür für soziale Dynamiken, das durch bewusste Anstrengung kompensiert werden muss. Das führt jedoch zu einem hohen Energieaufwand, der Gespräche anstrengend und belastend macht.


Mangelndes Interesse und Schwierigkeiten mit Smalltalk

Autisten tun sich oft schwer mit Smalltalk, da sie diesen nicht als sinnvolle Kommunikationsform betrachten. Während Smalltalk für viele neurotypische Menschen eine Möglichkeit ist, eine Verbindung herzustellen und soziale Nähe aufzubauen, wird er von Autisten häufig als inhaltsleer und anstrengend empfunden. Da Smalltalk wenig mit konkretem Informationsaustausch zu tun hat, fehlt ihnen häufig der Zugang dazu – sowohl inhaltlich als auch emotional.

Beispiele:

  • Unverständnis für den Zweck von Smalltalk. Beispiel: Ein Autist versteht nicht, warum jemand in einem Gespräch über das Wetter redet, anstatt direkt über ein wichtiges Thema zu sprechen, und antwortet nur knapp oder gar nicht.
  • Probleme, passende Antworten zu finden. Beispiel: Auf die Bemerkung „Schöner Tag heute, oder?“ reagiert der Autist mit einem langen, analytischen Kommentar über die Wetterbedingungen, anstatt die Floskel mit einer kurzen Zustimmung zu erwidern.
  • Smalltalk als anstrengend empfinden. Beispiel: Ein Autist fühlt sich nach einem kurzen Austausch im Büro über das Wochenende so erschöpft, als hätte er eine lange Diskussion geführt, weil er bewusst auf jede Reaktion achten musste.
  • Unfähigkeit, Smalltalk in Gang zu bringen. Beispiel: Der Autist möchte höflich wirken, weiß aber nicht, welche Themen „leicht“ genug sind, um ein kurzes Gespräch zu beginnen, und sagt daher lieber gar nichts.
  • Versuch, Smalltalk zu vermeiden. Beispiel: Ein Autist meidet den Pausenraum im Büro, weil er Angst hat, in belanglose Gespräche verwickelt zu werden, bei denen er nicht weiß, wie er sich verhalten soll.
  • Überforderung durch die Belanglosigkeit. Beispiel: Ein Autist hört im Smalltalk aufmerksam zu, versteht aber nicht, warum der Gesprächspartner begeistert von einer trivialen Situation erzählt, und empfindet den Austausch als frustrierend.
  • Smalltalk als Fremdsprache erlernen. Beispiel: Insbesondere autistische Frauen beobachten und imitieren Smalltalk, um sich anzupassen. Dennoch empfinden sie ihn oft als künstlich und unauthentisch, was auf Dauer sehr belastend sein kann.
  • Missverständnisse bei Floskeln. Beispiel: Auf die Frage „Na, alles gut?“ beginnt der Autist, ehrlich über aktuelle Probleme zu sprechen, weil er nicht versteht, dass dies lediglich eine höfliche Begrüßung ist.
  • Fokus auf tiefgründige Gespräche. Beispiel: Statt Smalltalk zu führen, versucht ein Autist, sofort auf ein ernstes oder detailliertes Thema einzugehen, was andere als unangemessen oder zu fordernd empfinden.
  • Unangemessene Tiefe in Smalltalk-Situationen. Beispiel: In einer lockeren Unterhaltung bei einer Party erzählt der Autist plötzlich detailliert über ein privates Problem, da er den oberflächlichen Charakter der Situation nicht erkennt.

Smalltalk ist für viele Autisten eine große Herausforderung, da er auf sozialen Regeln basiert, die nicht intuitiv verstanden werden. Für Autisten, die sich durch Smalltalk dennoch anzupassen versuchen, ist dies oft sehr anstrengend und führt nicht selten dazu, dass sie solche Situationen lieber meiden. Dabei empfinden sie den Verzicht auf Smalltalk nicht als Verlust, sondern eher als Erleichterung, da sie Gespräche bevorzugen, die ihnen inhaltlich oder emotional etwas bedeuten.



Oversharing

Oversharing beschreibt die Tendenz, mehr persönliche Informationen oder Details preiszugeben, als in der sozialen Situation angemessen ist. Für Autisten ergibt sich dieses Verhalten oft aus ihrem Bedürfnis nach Ehrlichkeit, ihrem mangelnden Gespür für soziale Konventionen und besonders aus dem Wunsch, sich zu erklären und verstanden zu werden. Sie möchten Missverständnisse ausräumen oder den eigenen Standpunkt so detailliert darlegen, dass keine Unklarheiten mehr bleiben – was allerdings oft das Gegenteil bewirkt.

Beispiele:

  • Zu viele persönliche Details in einer formellen Situation. Beispiel: Auf die Frage des Chefs, wie es einem geht, erzählt ein Autist ausführlich von privaten Problemen, etwa Streitigkeiten in der Familie oder gesundheitlichen Beschwerden. Der Chef hatte jedoch lediglich eine höfliche Floskel erwartet und ist völlig irritiert.
  • Detaillierte Offenheit gegenüber Fremden. Beispiel: Ein Autist lernt in der Bahn jemanden kennen und erzählt dieser Person innerhalb von Minuten von vergangenen Traumata oder persönlichen Schwächen, ohne zu merken, dass dies den anderen überfordert.
  • Antworten, die weit über die Frage hinausgehen. Beispiel: Auf die Frage „Wie war dein Wochenende?“ folgt keine kurze Antwort, sondern eine detaillierte Erzählung aller Aktivitäten, emotionalen Höhen und Tiefen sowie der genauen Abläufe.
  • Teilen von sensiblen Themen ohne Kontext. Beispiel: In einem Gespräch über Hobbys erwähnt der Autist plötzlich sehr persönliche Details, wie finanzielle Probleme oder medizinische Diagnosen, die für den Gesprächspartner unvorbereitet kommen.
  • Unpassender Zeitpunkt für Offenheit. Beispiel: Während eines Gesprächs auf einer Party, bei dem es um allgemeine Themen geht, erzählt der Autist plötzlich von einer belastenden Kindheitserinnerung, ohne zu merken, dass dies die Stimmung stark beeinflusst.
  • Erklärung des eigenen Verhaltens in einer unangenehmen Situation. Beispiel: Ein Autist, der bei einem Meeting nicht gegrüßt hat, erklärt nachträglich ausführlich, dass er zu nervös war und sich überfordert gefühlt hat, und schildert dabei weitere persönliche Ängste oder Unsicherheiten. Diese zusätzliche Offenheit wird vom Umfeld nicht immer als notwendig oder hilfreich wahrgenommen.
  • Reaktion auf Kritik. Beispiel: Nach einer Rückmeldung wie „Du wirkst manchmal unhöflich“ erklärt der Autist in aller Ausführlichkeit, dass er Probleme mit Blickkontakt, sozialer Unsicherheit und Stress hat, und teilt dabei intime Details, die das Gegenüber nicht erwartet hat und schwer einordnen kann.
  • Erklärung eines besonderen Interesses oder Verhaltens. Beispiel: Ein Autist, der einen ungewöhnlichen Gegenstand bei sich trägt (z.B. einen Fidget-Toy), erklärt in einem einfachen Gespräch, dass er diesen zur Beruhigung benötigt, weil er unter sensorischen Überlastungen leidet, und erzählt dabei auch von anderen sensorischen Schwierigkeiten oder Diagnosen.
  • Versuch, soziale Missverständnisse aufzuklären. Beispiel: Nach einem Streit erklärt der Autist ausführlich, warum er so reagiert hat, und beschreibt seine Gedanken, Gefühle und Erfahrungen in einer Weise, die für den anderen überwältigend oder überfordernd wirken kann.
  • Erklärungen in beruflichen Kontexten. Beispiel: Ein Autist erklärt in einem Bewerbungsgespräch, dass er sich besonders gut auf strukturierte Aufgaben konzentrieren kann, und fügt hinzu, dass dies auf seine autistische Wahrnehmung zurückzuführen ist, was er durch weitere persönliche Details belegt. Dies könnte für den Gesprächspartner als unangemessen empfunden werden.


Oversharing entsteht also nicht aus böser Absicht. Vielmehr kommt es aus der direkten und ehrlichen Art von Autisten sowie aus ihrer Schwierigkeit, soziale Grenzen intuitiv zu erkennen. Für das Gegenüber kann diese Offenheit jedoch überfordernd wirken, was zu Unverständnis oder Abwehr führt. Autisten, die negative Reaktionen auf Oversharing erleben, ziehen sich oft zurück oder fühlen sich in sozialen Situationen noch unsicherer.

Und Oversharing, das aus dem Bedürfnis nach Erklärung und Verständnis entsteht, zeigt somit die Bemühungen vieler Autisten, sich in sozialen Situationen zurechtzufinden und Missverständnisse zu vermeiden. Jedoch wird diese Offenheit nicht immer als positiv wahrgenommen, was bei Autisten wiederum Unsicherheiten und Rückzugstendenzen verstärken kann.



Infodumping

Infodumping bezeichnet die Angewohnheit, ausführlich und detailreich über ein Spezialinteresse zu sprechen – oft unabhängig davon, ob der Gesprächspartner daran interessiert ist oder nicht. Für Autisten ist das Teilen ihres Wissens eine Form, Begeisterung auszudrücken und sich zu verbinden. Doch da sie die Reaktionen ihres Gegenübers oft nicht richtig deuten können, kann dieses Verhalten als unangemessen oder dominierend wahrgenommen werden.

Beispiele:

  • Monolog über ein Spezialinteresse. Beispiel: Ein Autist mit einer Leidenschaft für Zugmodelle erklärt in einem Gespräch ausführlich die Baujahre, Hersteller und technischen Spezifikationen verschiedener Modelle, ohne zu merken, dass der Gesprächspartner nach kurzer Zeit das Interesse verliert.
  • Missverstehen von Höflichkeit als Interesse. Beispiel: Der Gesprächspartner nickt höflich und sagt gelegentlich „Ah ja, interessant!“. Der Autist interpretiert dies als Begeisterung und fährt fort, immer detaillierter über das Thema zu sprechen.
  • Überfordern durch zu viele Details. Beispiel: In einer Diskussion über Umweltfragen erzählt ein Autist nicht nur die Grundzüge, sondern listet alle chemischen Prozesse und deren physikalische Auswirkungen im Detail auf, bis der Gesprächspartner verwirrt oder überfordert wirkt.
  • Schwierigkeit, das Thema zu wechseln. Beispiel: Ein Gesprächspartner versucht, das Thema von einem Vortrag über Dinosaurier auf ein gemeinsames Hobby zu lenken, doch der Autist kehrt immer wieder zu den Dinosauriern zurück.
  • Ignorieren von nonverbalen Signalen. Beispiel: Der Gesprächspartner schaut auf die Uhr, gähnt oder sieht sich um, doch der Autist interpretiert diese Hinweise nicht als Desinteresse und redet weiter.
  • Überschätzung der Faszination anderer. Beispiel: Ein Autist spricht leidenschaftlich über ein mathematisches Problem, weil er es für faszinierend hält, und erwartet, dass sein Gegenüber diese Begeisterung teilt.

Infodumping ist also überhaupt keine absichtliche Unhöflichkeit, sondern Ausdruck von Leidenschaft. Doch da Autisten die Reaktionen ihres Gegenübers oft nicht erkennen, kann es zu Missverständnissen und sozialer Distanz führen. Gleichzeitig erleben Autisten Frustration, wenn ihre Begeisterung nicht geteilt wird, was wiederum das Gefühl von Isolation verstärken kann.



Gespräche dominieren, ohne es zu merken

Autisten können oft unabsichtlich Gespräche dominieren, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dies geschieht vor allem in Situationen, in denen sie über ein Thema sprechen, das sie besonders interessiert. Sie sind so in ihrem Gedankenfluss und ihrer Begeisterung gefangen, dass sie die Reaktionen oder das Desinteresse ihres Gegenübers nicht bemerken. Ein häufiger Grund für dieses Verhalten ist die Schwierigkeit, subtile nonverbale Signale zu erkennen, die normalerweise darauf hinweisen würden, dass das Gegenüber das Thema wechseln möchte oder sich zurückzieht.

Beispiele:

  • Unbeabsichtigter Monolog über ein Spezialinteresse. Beispiel: Ein Autist mit einer Leidenschaft für Astronomie erklärt minutenlang Details über schwarze Löcher, ohne wahrzunehmen, dass sein Gesprächspartner nur gelegentlich nickt oder auf die Uhr schaut.
  • Ignorieren von Versuchen, das Thema zu wechseln. Beispiel: Der Gesprächspartner versucht, das Thema zu wechseln, indem er eine Frage zu einem anderen Bereich stellt. Der Autist bleibt jedoch beim ursprünglichen Thema und beantwortet die Frage nur kurz, bevor er in seinen Monolog zurückkehrt.
  • Übernehmen der Gesprächsführung. Beispiel: Während einer Gruppenunterhaltung beginnt der Autist, seine Gedanken auszuführen, und merkt nicht, dass andere nicht mehr zu Wort kommen oder sich aus der Diskussion zurückziehen.
  • Einschätzung, dass das Thema interessant sein müsste. Beispiel: Der Autist spricht ausführlich über eine kürzlich entdeckte mathematische Theorie, weil er überzeugt ist, dass dieses Thema für jeden faszinierend sein muss.
  • Missverständnis von Pausen. Beispiel: In einem Gespräch entsteht eine kurze Pause, die der Autist als Aufforderung versteht, weitere Details hinzuzufügen, statt darauf zu warten, dass der Gesprächspartner spricht.
  • Einseitigkeit in Gesprächen. Beispiel: Bei einem Treffen mit Freunden erzählt der Autist nur über seine Woche, ohne nach den Erlebnissen der anderen zu fragen oder darauf einzugehen.
  • Annahme, dass Zuhören Zustimmung bedeutet. Beispiel: Ein Gesprächspartner, der höflich zuhört, wird als interessiert interpretiert, obwohl dieser möglicherweise gelangweilt oder überfordert ist.

Diese Beispiele zeigen, wie Gespräche dominieren zu einem Missverständnis führen kann. Während der Autist versucht, seine Begeisterung oder sein Wissen zu teilen, wird dieses Verhalten häufig als unhöflich oder egozentrisch wahrgenommen. Das verstärkt die Wahrscheinlichkeit, dass soziale Interaktionen für beide Seiten als unangenehm empfunden werden und Autisten sich in Zukunft mehr zurückziehen.



Überforderung durch Gruppengespräche

Gruppengespräche stellen für viele Autisten eine besondere Herausforderung dar. Sie sind oft dynamisch und erfordern das gleichzeitige Verarbeiten mehrerer nonverbaler und verbaler Signale. Dies kann schnell zu Überforderung führen, da das Timing, die Themenwechsel und die Gruppendynamik schwer zu durchschauen sind.

Beispiele:

  • Unsicherheit beim Einstieg. Beispiel: Ein Autist wartet, bis alle anderen gesprochen haben, verpasst dann aber die Gelegenheit, seinen Beitrag zu leisten.
  • Überforderung durch mehrere Stimmen. Beispiel: In einer Diskussion spricht eine Person über das eigentliche Thema, während jemand anderes eine Nebenbemerkung macht – der Autist verliert den Überblick.
  • Probleme, Themenwechsel zu erkennen. Beispiel: Die Gruppe wechselt zu einem neuen Thema, aber der Autist bringt weiterhin Punkte zum vorherigen Thema ein.
  • Nicht bemerken, dass man an der Reihe ist. Beispiel: Nach einer Frage an die Gruppe bleibt der Autist still, da er nicht erkennt, dass er gemeint ist.
  • Einschüchterung durch dominante Redner. Beispiel: Der Autist möchte etwas sagen, zieht sich aber zurück, weil andere Gruppenmitglieder lauter oder energischer auftreten.
  • Missverständnisse durch nonverbale Signale. Beispiel: Ein Autist spricht weiter, obwohl jemand anderes durch Mimik oder Gestik signalisiert, dass er selbst reden möchte.
  • Gefühl von Isolation in der Gruppe.Beispiel: Der Autist hört aufmerksam zu, beteiligt sich aber nicht, weil er sich unsicher über die eigenen Beiträge fühlt.
  • Probleme mit Humor in Gruppen. Beispiel: Ein Autist reagiert nicht auf einen gemeinsamen Witz, weil er ihn nicht versteht, und wird dadurch als distanziert wahrgenommen.
  • Schnelle Ermüdung durch Gruppengespräche. Beispiel: Nach kurzer Zeit fühlt sich der Autist überfordert und zieht sich zurück, weil die Verarbeitung der Gruppeninteraktion zu anstrengend wird.

Gruppengespräche verlangen ein hohes Maß an Flexibilität und die Fähigkeit, verschiedene Signale gleichzeitig zu verarbeiten. Autisten empfinden solche Gespräche häufig als chaotisch und überwältigend, was zu Rückzug, Missverständnissen oder Unsicherheiten führt. Mit klaren Strukturen und vorhersehbaren Abläufen können Gruppensituationen jedoch erleichtert werden.



Besonderheiten bei Mädchen und Frauen

Autismus äußert sich bei Mädchen und Frauen oft anders als bei Jungen und Männern, was dazu führt, dass er seltener erkannt wird. Im Bereich der Gespräche zeigt sich das insbesondere durch eine stärkere Anpassungsfähigkeit und eine bewusste Anstrengung, soziale Erwartungen zu erfüllen.

Beispiele:

  • Erlernen von Gesprächsregeln wie eine „Fremdsprache“. Beispiel: Autistische Mädchen beobachten ihre Mitschülerinnen genau, um deren Gesprächsverhalten zu imitieren. Sie lernen, höflich zu nicken, Gegenfragen zu stellen und Lücken im Gespräch zu füllen, ohne diese Regeln intuitiv zu verstehen.
  • Perfektioniertes Masking in Gesprächen. Beispiel: Eine Autistin führt Smalltalk fließend und passt sich scheinbar mühelos an, obwohl dies für sie enorme Anstrengung bedeutet und sie anschließend völlig erschöpft ist.
  • Verstecken von Unsicherheiten durch Kompensation. Beispiel: Wenn eine Autistin Schwierigkeiten hat, ein Gespräch zu beginnen, lenkt sie die Aufmerksamkeit bewusst auf den Gesprächspartner, indem sie mit einer Frage startet: „Wie war dein Wochenende?“, um von sich abzulenken.
  • Überanpassung an soziale Erwartungen. Beispiel: Ein Mädchen, das Smalltalk hasst, lächelt und stimmt zu, obwohl sie das Gespräch inhaltlich uninteressant findet, da sie nicht negativ auffallen möchte.
  • Stärkere soziale Selbstkritik. Beispiel: Nach einem Gespräch grübelt ein autistisches Mädchen stundenlang darüber nach, ob sie etwas „falsch“ gemacht hat, etwa ob ihre Antworten passend waren oder sie den richtigen Ton getroffen hat.
  • Unbemerkter sozialer Rückzug. Beispiel: Wenn Gespräche zu anstrengend werden, zieht sich eine Autistin nicht offensichtlich zurück, sondern bleibt körperlich anwesend, beteiligt sich jedoch kaum noch aktiv am Gespräch.
  • Übermäßiges Nachdenken über Gesprächsinhalte. Beispiel: Nach einem Gespräch denkt eine Autistin tagelang über einzelne Sätze nach, analysiert mögliche Missverständnisse und versucht, ihre Aussagen in zukünftigen Gesprächen zu verbessern.
  • „Chamäleon“-Verhalten in Gruppen. Beispiel: Eine Autistin passt ihre Sprache, Gestik und Interessen an die Gruppe an, um nicht aufzufallen, und ignoriert dabei oft ihre eigenen Bedürfnisse oder Vorlieben.
  • Stärkere Fokussierung auf Beziehungen. Beispiel: Eine Autistin investiert viel Energie in Gespräche, die sie für den Erhalt von Freundschaften wichtig hält, und übergeht dabei ihre eigenen Grenzen. Das führt oft zu sozialer Erschöpfung.
  • Vermeiden von Gesprächsanfängen. Beispiel: Ein autistisches Mädchen vermeidet es, selbst ein Gespräch zu beginnen, weil sie Angst hat, den falschen Ton zu treffen oder unpassende Themen auszuwählen. Stattdessen wartet sie, bis sie angesprochen wird.
  • Sichtbare Erleichterung nach „sicheren“ Gesprächen. Beispiel: Nach einem Gespräch mit einer vertrauten Person, bei dem sie keine Angst vor Fehlern haben muss, zeigt ein autistisches Mädchen Entspannung und Freude, die in anderen sozialen Interaktionen fehlt.
  • Verstärktes Masking bei Missverständnissen. Beispiel: Wenn ein autistisches Mädchen bemerkt, dass sie etwas Falsches gesagt hat, versucht sie sofort, es zu korrigieren, indem sie sich entschuldigt oder lacht, um das Gespräch wieder „in Ordnung“ zu bringen.
  • Kompensation durch schriftliche Kommunikation. Beispiel: Eine Autistin, die Gespräche vermeidet, weil sie zu anstrengend sind, nutzt verstärkt Messenger oder E-Mails, da sie dort mehr Zeit hat, ihre Worte zu formulieren.
  • Schneller sozialer Rückzug nach Gesprächen. Beispiel: Eine Autistin wirkt nach außen sozial aktiv, aber nach jedem Gespräch zieht sie sich für längere Zeit zurück, um sich von der Anstrengung zu erholen.
  • Vermeidung von Augenkontakt durch andere Strategien. Beispiel: Ein autistisches Mädchen hält beim Zuhören den Augenkontakt nur scheinbar, indem sie auf die Nasenwurzel oder Stirn des Gegenübers schaut, um die soziale Erwartung zu erfüllen, ohne sich unwohl zu fühlen.
  • Unauffälliges Nachahmen von Gesprächspartnern. Beispiel: Eine Autistin beobachtet genau, wie ihre Freundinnen Sätze formulieren oder welche Körpersprache sie nutzen, und imitiert dies bewusst, um sich besser anzupassen.
  • Überforderung durch Gruppengespräche. Beispiel: Ein autistisches Mädchen in einer Gruppe spricht kaum, weil es den schnellen Wechsel der Themen und Sprecher nicht mitverfolgen kann. Sie wirkt dadurch schüchtern oder desinteressiert, obwohl sie innerlich stark bemüht ist, Anschluss zu finden.

Mädchen und Frauen im Autismus-Spektrum setzen oft Masking-Techniken ein, um sich in Gesprächen anzupassen. Dies führt dazu, dass ihre Schwierigkeiten übersehen werden, da sie nach außen hin gut integriert wirken. Doch diese Anpassungsleistung ist oft mit großem inneren Stress verbunden, der langfristig zu Erschöpfung oder sozialem Rückzug führen kann.



B. Sprache und Verständnis


Wörtliches Verständnis von Sprache

Autisten nehmen Sprache häufig wörtlich, da sie Schwierigkeiten haben, den übertragenen oder metaphorischen Sinn von Aussagen zu erkennen. Während neurotypische Menschen intuitiv verstehen, wenn Redewendungen, Ironie oder Sarkasmus verwendet werden, fehlt es Autisten oft an dieser intuitiven Deutungskompetenz. Stattdessen konzentrieren sie sich auf die genauen Worte und deren wörtliche Bedeutung.

Beispiele:

  • Missverstehen von Redewendungen. Beispiel: Auf die Redewendung „Das schlägt dem Fass den Boden aus“ könnte ein Autist fragen, welches Fass gemeint ist und warum dessen Boden herausgeschlagen wird.
  • Schwierigkeiten mit Metaphern. Beispiel: Ein Lehrer sagt: „Ihr müsst über den Tellerrand hinausschauen.“ Der Autist bleibt verwirrt zurück und fragt sich, was der Tellerrand mit der Aufgabe zu tun hat.
  • Ironie wird nicht erkannt. Beispiel: Jemand sagt: „Oh, das hast du ja richtig toll gemacht!“, um einen Fehler humorvoll zu kritisieren. Der Autist nimmt dies ernst und fühlt sich gelobt, was zu Missverständnissen führt.
  • Probleme mit Sarkasmus. Beispiel: Auf die Aussage „Natürlich, das war ja ganz einfach!“ nach einer komplizierten Aufgabe reagiert der Autist mit einem sachlichen „Nein, es war wirklich schwer“, da er die sarkastische Ebene nicht erkennt.
  • Wörtliches Befolgen von Anweisungen. Beispiel: Ein Elternteil sagt: „Stell deine Schuhe in die Ecke.“ Der Autist stellt die Schuhe exakt in eine Ecke, auch wenn dort kein Schuhregal steht.
  • Unklarheit bei unpräzisen Aussagen. Beispiel: Jemand sagt: „Wir treffen uns später.“ Der Autist fragt nach einer genauen Uhrzeit und einem Ort, da „später“ für ihn zu vage ist.
  • Verwirrung durch humorvolle Übertreibung. Beispiel: Auf die Aussage „Ich hab heute schon tausend Sachen erledigt!“ fragt der Autist irritiert, wie das in einem einzigen Tag möglich war.
  • Probleme mit rhetorischen Fragen. Beispiel: Ein Lehrer fragt „Wie oft soll ich das noch erklären?“, und der Autist antwortet ehrlich: „Vielleicht drei- oder viermal?“
  • Missverständnis bei Wortspielen. Beispiel: Bei einem Wortspiel wie „Ich geh mal kurz ins Netz“ (im Sinne von Internet) fragt sich der Autist verwirrt, ob ein echtes Netz gemeint ist.
  • Fokus auf den Inhalt statt auf den Tonfall. Beispiel: Jemand sagt in einem genervten Ton „Ach, lass mich doch in Ruhe!“ Der Autist nimmt dies wortwörtlich und zieht sich zurück, ohne den emotionalen Kontext zu erfassen.

Das wörtliche Verständnis von Sprache führt dazu, dass Autisten oft in Situationen geraten, die für sie verwirrend oder frustrierend sind. Missverständnisse entstehen, weil sie die subtilen Nuancen und den Kontext von Sprache nicht intuitiv erfassen. Für Außenstehende wirkt dieses Verhalten manchmal naiv oder distanziert, obwohl es in Wahrheit eine andere Art ist, die Welt zu interpretieren.



Schwierigkeiten, indirekte Aussagen zu verstehen

Autisten haben oft Probleme mit indirekten oder impliziten Aussagen, da sie Sprache häufig wörtlich und ohne Subtext interpretieren. Während neurotypische Menschen viele Aussagen mit Zwischentönen oder Andeutungen verstehen, benötigen Autisten meist explizite Formulierungen, um den tatsächlichen Sinn zu erfassen.

Typische Beispiele:

  • Missverständnisse bei höflichen Formulierungen. Beispiel: „Vielleicht könntest du das nochmal überarbeiten“ wird als Option verstanden, nicht als indirekte Aufforderung.
  • Unverständnis für subtile Kritik. Beispiel: Eine Bemerkung wie „Das ist ja interessant“ wird nicht als höfliche Ablehnung, sondern als echte Zustimmung wahrgenommen.
  • Probleme mit indirekten Aufforderungen. Beispiel: Auf „Es ist hier ganz schön kalt“ reagiert der Autist nicht, da er nicht erkennt, dass dies eine Aufforderung ist, das Fenster zu schließen.
  • Fragen ohne klare Absicht werden wörtlich beantwortet. Beispiel: Auf „Wie spät haben wir es eigentlich?“ antwortet der Autist mit der genauen Uhrzeit, ohne den sozialen Kontext zu erkennen.
  • Missverstehen von Witzen. Beispiel: Ein scherzhaft gemeinter Kommentar wird ernst genommen, was zu Verwirrung oder peinlichen Situationen führt.
  • Unklare Anweisungen werden ignoriert. Beispiel: Eine Lehrkraft sagt: „Ihr könnt ja schon mal anfangen“, und der Autist bleibt sitzen, weil die Aufgabe nicht klar definiert wurde.
  • Verwirrung durch Untertreibungen oder Übertreibungen. Beispiel: Der Satz „Das dauert doch nur eine Sekunde“ führt zu Ungeduld, da der Autist dies wörtlich nimmt.
  • Probleme mit sozialen Andeutungen. Beispiel: „Das sieht aber gemütlich aus bei dir“ wird nicht als Hinweis auf Unordnung, sondern als echtes Kompliment verstanden.

Indirekte Sprache erfordert oft ein Verständnis für Kontext, Tonfall und nonverbale Hinweise, die für Autisten schwer zugänglich sind. Dies führt zu Missverständnissen und der Wahrnehmung, Autisten seien „unsensibel“ oder „seltsam“. Klarheit und direkte Formulierungen helfen, solche Schwierigkeiten zu vermeiden.


Missverstehen von Scherzen oder Neckereien

Autisten haben oft Schwierigkeiten, Scherze oder Neckereien zu erkennen, da diese meist auf subtilen Hinweisen wie Tonfall, Mimik oder Kontext basieren. Für neurotypische Menschen sind diese Signale intuitiv verständlich, während Autisten sie nicht oder nur schwer deuten können. Statt einen Scherz als humorvoll wahrzunehmen, wird er häufig wörtlich interpretiert oder als Kritik missverstanden.

Beispiele:

  • Wörtliche Interpretation eines Scherzes. Beispiel: Jemand sagt: „Pass auf, dass du nicht vom Stuhl fällst, so wie du da sitzt!“ Der Autist schaut sich irritiert um, überprüft seinen Sitz und fragt, ob der Stuhl kaputt ist.
  • Neckerei als persönliche Kritik wahrnehmen. Beispiel: Ein Kollege sagt augenzwinkernd: „Na, wieder mal zu spät?“ Der Autist fühlt sich angegriffen, obwohl es humorvoll gemeint war, und beginnt, sich detailliert zu rechtfertigen.
  • Probleme mit Sarkasmus. Beispiel: Auf die sarkastische Bemerkung „Na klar, das war eine geniale Idee!“ nach einem Fehler reagiert der Autist ernsthaft mit: „Ich dachte, es wäre wirklich eine gute Idee.“
  • Verwirrung durch Ironie. Beispiel: Jemand sagt: „Das war ja mal ein großartiger Erfolg!“ Der Autist versteht die ironische Ebene nicht und fragt nach, warum der andere das Ergebnis als Erfolg betrachtet.
  • Unfähigkeit, neckende Freundschaftsgesten zu erkennen. Beispiel: Ein Freund tippt dem Autisten im Spaß auf die Schulter und sagt: „Jetzt bist du aber mal dran!“ Der Autist empfindet die Geste als übergriffig oder missverständlich.
  • Ernsthafte Reaktion auf übertriebenen Humor. Beispiel: Auf den Satz „Ich hab heute so viel gearbeitet, ich glaub, ich bin jetzt 90 Jahre alt!“ reagiert der Autist mit: „Das kannst du nicht wirklich glauben, oder?“
  • Verwirrung bei spielerischem Streit. Beispiel: Zwei Freunde necken sich humorvoll, und der Autist mischt sich ein, um den „Streit“ zu schlichten, weil er die spielerische Ebene nicht erkennt.
  • Häufiges Nachfragen. Beispiel: Nach einem Scherz fragt der Autist: „Meinst du das ernst?“ oder „Was soll das bedeuten?“, was den Humor für andere oft „zerstört“.
  • Stärke des Humors falsch einschätzen. Beispiel: Ein Autist erzählt einen Witz, der sehr trocken oder schwarz ist, und bemerkt nicht, dass dieser die Stimmung in der Gruppe unangenehm beeinflusst.
  • Trockener und analytischer Humor. Beispiel: Ein Autist bemerkt in einer Unterhaltung: „Der Wetterbericht sagt 30% Regenwahrscheinlichkeit. Heißt das, es regnet nur zu 30%?“ Die humorvolle, analytische Bemerkung wird vom Gegenüber als ernst gemeint interpretiert.
  • Schwarzer Humor. Beispiel: Ein Autist macht einen humorvollen Kommentar über ein schwieriges Thema, etwa: „Wenn das noch komplizierter wird, schreibe ich eine Doktorarbeit darüber.“ Die anderen reagieren irritiert, weil sie den Sarkasmus als unangemessen empfinden.
  • „Insider“-Humor ohne Publikum. Beispiel: Ein Autist lacht über eine eigene, komplexe Beobachtung – etwa, dass ein bestimmtes Muster auf der Tapete wie ein Tier aussieht – und teilt dies mit anderen, die jedoch nicht nachvollziehen können, warum das lustig ist.
  • Humor als Bewältigungsstrategie. Beispiel: In einer unangenehmen sozialen Situation kommentiert ein Autist: „Das läuft ja wie geschmiert – nur leider mit Sand.“ Die Bemerkung wird als pessimistisch oder unangemessen aufgefasst, obwohl sie der Situation für den Autisten Leichtigkeit geben sollte.
  • Selbstironischer Humor. Beispiel: Ein Autist sagt: „Ich habe keine soziale Angst. Ich habe nur Angst vor sozialen Situationen mit anderen Menschen.“ Während autistische Zuhörer den Witz erkennen, wird er von neurotypischen Personen oft nicht als Humor erkannt.
  • Überforderte Reaktion auf „Misslungene“ Witze. Beispiel: Ein Autist erzählt einen sorgfältig geplanten Witz, der nicht ankommt, und entschuldigt sich, da er glaubt, etwas falsch gemacht zu haben.
  • Unverständnis gegenüber „sozialem Humor“. Beispiel: Ein Autist versteht Gruppenneckereien oder ironischen „Gemeinschaftshumor“ nicht und zieht sich zurück, weil er glaubt, der Humor sei auf seine Kosten.
  • Humor nur in vertrauten Kreisen. Beispiel: Ein Autist macht nur in sehr vertrauten Situationen humorvolle Bemerkungen, da er Angst hat, in anderen Kontexten missverstanden oder abgelehnt zu werden.

Autistische Menschen haben oft einen ausgeprägten, kreativen und oft außergewöhnlichen Humor, der sich von neurotypischem Humor unterscheidet. Dieser Humor kann sowohl ein Ventil als auch eine Möglichkeit zur Verbindung sein – doch die Angst vor Missverständnissen führt dazu, dass viele Autisten ihren Humor zurückhalten. Die fehlende Resonanz oder das Unverständnis anderer kann dabei das Gefühl verstärken, „anders“ zu sein.

Umgekehrt können die Schwierigkeiten, Scherze oder Neckereien von Neurotypischen zu verstehen, bei Autisten zu Missverständnissen oder belastenden sozialen Situationen führen. Während sie selbst oft nicht beabsichtigen, humorlos zu wirken, empfinden sie den sozialen Humor als schwer verständlich. Dies führt häufig zu Unsicherheiten oder einem Rückzug aus Situationen, in denen Humor eine zentrale Rolle spielt.



Selbst kaum Witze oder Scherze machen

Viele Autisten machen selten Witze oder Scherze, da sie Humor anders wahrnehmen und nutzen als neurotypische Menschen. Oft resultiert dies aus Unsicherheiten: Sie wissen nicht, wie ihr Humor ankommt, ob er passend ist oder wie andere darauf reagieren. Manche empfinden Humor auch als „unpraktisch“, weil er nicht dem direkten Informationsaustausch dient, den sie in Gesprächen bevorzugen.

Beispiele:

  • Angst, missverstanden zu werden. Beispiel: Ein Autist hat eine humorvolle Bemerkung im Kopf, sagt sie aber nicht laut, weil er befürchtet, dass sie unpassend oder nicht als Witz erkannt wird.
  • Fokus auf Ernsthaftigkeit. Beispiel: In einer lockeren Gesprächsrunde bleibt ein Autist sachlich, weil er nicht versteht, warum ein ernstes Thema humorvoll behandelt wird, und befürchtet, durch einen Witz den Ernst der Situation zu untergraben.
  • Witze als „unlogisch“ empfinden. Beispiel: Ein Autist hört einen Witz und analysiert, warum die Pointe keinen realen Sinn ergibt, statt ihn als humorvoll zu empfinden. Dadurch wird es für ihn selbst schwieriger, ähnliche Witze zu formulieren.
  • Unsicherheit, was „lustig“ ist. Beispiel: Ein Autist überlegt lange, ob ein Witz über ein alltägliches Missgeschick geeignet ist, und entscheidet sich am Ende, ihn lieber nicht zu erzählen, um nicht tollpatschig zu wirken.
  • Geringe Relevanz von Humor für die Kommunikation. Beispiel: Ein Autist sieht keinen Nutzen darin, Witze zu machen, da sie keinen konkreten Informationsgehalt haben, und konzentriert sich lieber auf ernsthafte Gesprächsthemen.
  • Schwierigkeit, die Stimmung richtig einzuschätzen. Beispiel: Ein Autist erkennt nicht, ob die aktuelle Situation Raum für Humor bietet, und hält sich daher zurück, um keine Missverständnisse zu provozieren.
  • Rückzug nach negativen Erfahrungen. Beispiel: Ein Autist, dessen Witz in der Vergangenheit falsch verstanden wurde, vermeidet es bewusst, weitere Scherze zu machen, da er die Ablehnung als belastend empfand.
  • Selbstwahrnehmung als „unlustig“. Beispiel: Ein Autist glaubt, keinen Sinn für Humor zu haben, da er selten lacht oder von anderen selten positive Reaktionen auf seinen Humor erhält.
  • Humor nur in schriftlicher Form. Beispiel: Ein Autist fühlt sich sicherer, Witze in Chats oder E-Mails zu machen, da er dort Zeit hat, seine Formulierungen genau zu überlegen. 
  • Unklarheit über soziale Funktion von Humor. Beispiel: Ein Autist versteht nicht, dass Witze in Gruppen oft dazu dienen, Nähe oder Zugehörigkeit zu signalisieren, und verzichtet daher bewusst darauf.

Autisten verzichten oft bewusst auf Humor, um Unsicherheiten und Missverständnissen aus dem Weg zu gehen. Dies wird von anderen manchmal als „Humorlosigkeit“ wahrgenommen, obwohl es in Wahrheit auf tiefere soziale Unsicherheiten oder auf ein anderes Verständnis von Kommunikation zurückzuführen ist. In vertrauten Umgebungen kann ihr Humor jedoch durchaus lebendig und kreativ sein.