Könnte es wirklich Autismus sein?
Über 1000 Symptom-Beispiele zu den offiziellen Diagnosekriterien
Dr. med. Barbara Gorißen
Impressum:
Dr. med. Barbara Gorißen
Herbachstraße 12
55262 Ingelheim
www.Praxis-Dr-Gorissen.de
barbara.gorissen@proton.me
Copyright 2. Auflage: Dr. Barbara Gorißen 2025; Alle Rechte vorbehalten
Herstellung durch Amazon Distribution GmbH
ISBN: 9798310420052
Imprint: Independently published
Autorin: Gesetzliche Berufsbezeichnung Ärztin. Berufsbezeichnung verliehen in der Bundesrepublik Deutschland. Es besteht die Facharztbezeichnung Innere Medizin, nach Weiterbildung und Prüfung verliehen von der Landesärztekammer Hessen. Die Zusatzbezeichnungen fachbezogene Psychotherapie, Palliativmedizin und Notfallmedizin wurden ebenfalls von der Landesärztekammer Hessen verliehen.
Zuständige Ärztekammer/Aufsichtsbehörde:
Bezirksärztekammer Rheinhessen
Inhaltsverzeichnis
Vorwort oder: Was ist Autismus? Eine Einführung ins Thema
A. Was ist ein Spektrum? Die Vielfalt von Autismus
B. Diagnosekriterien vs. „lebendige“ Symptome
C. Ziel und Aufbau des Buches
Abschnitt 1: Einführung in die Diagnostik
1. Leitlinie und Klassifikationssysteme — worauf sich die Diagnostik stützt
A. S3-Leitlinien – die Königsklasse der Empfehlungen
B. Die Autismus-Leitlinie – ein Update ist überfällig
2. Autismus-Diagnostik nach ICD-11 und DSM 5
A. Was ist ICD-11 uns DSM 5?
B. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Abschnitt 2: Über 1000 Symptombeispiele für die Diagnosekriterien
1. Schwierigkeiten bei sozialer Gegenseitigkeit
A. Probleme im Kontext von Gesprächen
Probleme, Gespräche am Laufen zu halten
Mangelndes Interesse und Schwierigkeiten mit Smalltalk
Oversharing
Infodumping
Gespräche dominieren, ohne es zu merken
Überforderung durch Gruppengespräche
Besonderheiten bei Mädchen und Frauen
B. Sprache und Verständnis
Wörtliches Verständnis von Sprache
Schwierigkeiten, indirekte Aussagen zu verstehen
Missverstehen von Scherzen oder Neckereien
Selbst kaum Witze oder Scherze machen
Überwältigung durch zu viele Informationen
Probleme mit abstrakten Konzepten
Fokus auf Fakten statt Emotionen
Besonderheiten bei Mädchen und Frauen
C. Schwierigkeiten mit der Theorie of Mind
Kurze Einführung in die Theory of Mind (ToM)
Schwierigkeiten, die Gefühle anderer zu erkennen
Probleme mit Perspektivwechsel
Missverständnisse bei emotionalen Kontexten
Unfähigkeit, Absichten anderer zu antizipieren
Schwierigkeiten, unausgesprochene Regeln zu erkennen
Besonderheiten bei Mädchen und Frauen
2. Schwierigkeiten mit nonverbaler Kommunikation
A. Schwierigkeit, nonverbale Signale zu deuten
Probleme mit Mimik
Probleme mit Gestik
Probleme mit dem Tonfall
Übersehen von Blickkontakt-Signalen
Probleme mit Körperhaltung und -distanz
Unsicherheit bei symbolischer Kommunikation
Probleme mit der Kombination nonverbaler Signale
Besonderheiten bei Mädchen und Frauen
B. Probleme mit Augenkontakt
Vermeidung von Augenkontakt
Zu intensiver Augenkontakt
Unsicherheit in Gruppensituationen
Sensorische Überforderung durch Blickkontakt
Bewusste Kompensation durch alternative Strategien
Schwierigkeiten, Blicke zu interpretieren
Besonderheiten bei Mädchen und Frauen
C. Mimik und Gestik des Autisten
Ungewöhnliche Nutzung von Mimik und Gestik
Ausdruckslose oder monotone Mimik
Bewusstes „Masking“ von nonverbalen Signalen
Rituale statt spontaner Gestik
Schwierigkeiten, nonverbale Signale zu initiieren
Unsicherheit wieviel Gestik angemessen ist
Besonderheiten bei Mädchen und Frauen
3. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensweisen und Interessen
A. Stereotype Bewegungen (z. B. Stimming)
Handflattern, Schaukeln, Springen.
Fingerverdrehen, Klopfen, Reiben
Gegenstände zum Stimming nutzen (z. B. Fidget Toys)
Stimming als Strategie zur Emotionsregulation
Vokale oder visuelle Stimming-Muster
Rituale beim Stimming
Schwierigkeiten, Stimming zu unterdrücken
Folgen bei Unterdrückung von Stimming
Besonderheiten bei Mädchen und Frauen
B. Spezielle, intensive Interessen
Tiefes Eintauchen in Spezialinteressen
Starke Fokussierung auf Details
Hohe Ausdauer und Wissenstiefe
Probleme mit Flexibilität außerhalb des Interesses
Schwierigkeiten, das Interesse mit anderen zu teilen
Veränderungen der Interessen im Lebensverlauf
Besonderheiten bei Mädchen und Frauen
C. Routinen und Widerstand gegen Veränderung
Strikte Tagesabläufe
Schwierigkeiten bei Übergängen oder Veränderungen
Emotionale Reaktionen auf Abweichungen
Ritualisierte Abläufe in Alltagssituationen
Schwierigkeiten mit spontanen Planänderungen
Verwirrung durch unklare Zeitpläne
Besonderheiten bei Mädchen und Frauen
4. Sensorische Besonderheiten
A. Erhöhte Empfindlichkeit auf Reize
Überempfindlichkeit gegenüber lauten Geräuschen
Reizüberflutung durch mehrere Geräusche gleichzeitig
Unwohlsein durch bestimmte Lichtquellen
Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Textilien
Überreaktion auf Berührungen
Geruchsempfindlichkeit
Überreaktion auf Temperaturunterschiede
Sensorische Überforderung in sozialen Situationen
Besonderheiten bei Mädchen und Frauen
B. Hyposensitivität (Unterempfindlichkeit)
Schmerzunempfindlichkeit
Suche nach starken sensorischen Reizen
Fehlende Reaktion auf Umweltreize
Spätes Erkennen von Hunger oder Durst
Geringe Reaktion auf soziale Berührungen
Schwierigkeiten, subtile Reize wahrzunehmen
Besonderheiten bei Mädchen und Frauen
C. Besonderheiten im sensorischen Reizverhalten
Kombination aus Hyper- und Hyposensitivität
Ungewöhnliches Interesse an sensorischen Erlebnissen
Strategien zur Reizregulierung
Übermäßiges Fixieren auf bestimmte Reize
Unruhe bei sensorischer Unterreizung
Schwierigkeiten, sich von Reizen abzuwenden
Besonderheiten bei Mädchen und Frauen
6. Entwicklung und frühe Anzeichen bei Kindern
A. Besonderheiten der Sprachentwicklung
Später Sprachbeginn
Echolalie oder atypische Sprachmuster
Schwierigkeiten mit Fragen oder Dialogen
Begrenztes Vokabular in sozialen Situationen
Verstehen vs. Anwenden von Sprache
Probleme mit Sprachmelodie oder -rhythmus
Besonderheiten bei Mädchen
B. Besonderheiten im Spielverhalten
Repetitives Spiel oder Ordnungsmuster
Wenig symbolisches oder kooperatives Spiel
Bevorzugung bestimmter Materialien
Interesse an komplexen, nicht altersgerechten Themen
Schwierigkeiten mit Gruppenaktivitäten
Probleme, Spielregeln flexibel anzuwenden
Besonderheiten bei Mädchen
C. Schwierigkeiten mit sozialem Lernen
Probleme mit Nachahmung
Geringe Anpassung an soziale Regeln
Schwierigkeiten, aus Beobachtung zu lernen
Konflikte mit Peers durch andere Spielweisen
Probleme mit dem Erlernen von Kompromissen
Geringes Verständnis für soziale Konsequenzen
Besonderheiten bei Mädchen
Ausblick: Symptome aus Forschung und Community
Vorwort oder: Was ist Autismus? Eine Einführung ins Thema
Autismus ist eine neurodivergente Entwicklungsbesonderheit, die sich auf die Wahrnehmung, das Denken und das Verhalten von Menschen auswirkt. Oft wird Autismus als eine „andere Art, die Welt zu erleben“ beschrieben. Menschen im Autismus-Spektrum nehmen Reize intensiver oder anders wahr, denken oft analytischer und haben häufig Schwierigkeiten, sich an die sozialen Erwartungen ihrer Umgebung anzupassen.
Trotz seiner Herausforderungen bringt Autismus auch viele Stärken mit sich: die Fähigkeit, sich tief in Spezialinteressen zu vertiefen, analytische Probleme zu lösen oder Details wahrzunehmen, die anderen entgehen. Doch was Autismus genau bedeutet, lässt sich nicht pauschal beantworten, denn: Autismus ist ein Spektrum.
A. Was ist ein Spektrum? Die Vielfalt von Autismus
Der Begriff „Spektrum“ zeigt, dass Autismus sich in einer enormen Vielfalt äußert. Jeder Autist ist anders. Manche Menschen im Spektrum sind nonverbal, andere sind wortgewandt. Einige haben eine überdurchschnittliche Intelligenz, während andere Unterstützung im Alltag benötigen. Es gibt Menschen, die stark von sensorischen Reizen überfordert sind, und andere, die scheinbar unerschütterlich wirken.
Diese Vielfalt sorgt nicht nur für Missverständnisse in der Gesellschaft, sondern auch dafür, dass Autismus in der Diagnostik oft übersehen wird – insbesondere bei Frauen und Mädchen. Viele Symptome sind subtil oder werden durch Anpassung (Masking) verborgen, wodurch sie selbst Fachleuten entgehen können.
Dieses Buch möchte dazu beitragen, die Vielfalt von Autismus besser zu verstehen und sich von starren Vorstellungen zu lösen.
B. Diagnosekriterien vs. „lebendige“ Symptome
Die offiziellen Diagnosekriterien, wie sie in den großen Klassifikationssystemen beschrieben werden, sind wichtige Werkzeuge, um Autismus zu erkennen. Sie bieten eine wissenschaftliche Grundlage und strukturierte Orientierung. Doch sie bleiben oft vage und allgemein.
In der Praxis begegnet man jedoch unzähligen „lebendigen“ Symptomen, die im Alltag autistischer Menschen eine zentrale Rolle spielen. Diese Symptome reichen von typischen Verhaltensweisen, wie dem Vermeiden von Augenkontakt, bis hin zu unscheinbaren Details, wie einem starken Bedürfnis nach Routinen. Diese lebendigen Symptome sind oft nur indirekt in den Diagnosekriterien erwähnt, spiegeln jedoch die Realität autistischer Menschen wider.
Dieses Buch hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Kluft zu schließen. Es verbindet die wissenschaftliche Grundlage der Diagnosekriterien mit der Lebensrealität der autistischen Community. Die Symptome werden durch anschauliche Beispiele erläutert, die Betroffenen und Fachleuten helfen, Autismus besser zu verstehen.
C. Ziel und Aufbau des Buches
Dieses Buch richtet sich an alle, die Autismus besser verstehen möchten – sei es, weil sie selbst im Spektrum sind, weil sie einen Angehörigen unterstützen oder weil sie in einem helfenden Beruf arbeiten.
Nach einer kurzen Vorstellung der beiden großen Klassifikationssysteme widmet sich das Buch ausschließlich den Symptomen. Diese sind thematisch gruppiert, praxisnah beschrieben und mit Beispielen aus dem Alltag ergänzt. Die Vielfalt der Symptome spiegelt die Vielfalt von Autismus wider.
Die Idee dahinter ist, dass sich Betroffene in den Beispielen wiedererkennen können und Fachleute Anregungen für ihre Diagnostik und Therapie erhalten. Gleichzeitig soll das Buch mit den Beispielen auch das Verständnis für Autismus in der Gesellschaft stärken.
Ich habe bei den Beispielen in Buch in jedes Unterkapitel einen eigenen Unterpunkt „Besonderheiten bei Mädchen und Frauen“ hinzugefügt, da bei diesen die Diagnostik oft besonders schwierig ist, denn sie versuchen sich meist schon seit frühester Kindheit an die Erwartungen, die von neurotypischen Menschen an sie stellt, anzupassen und ihr Anderssein zu verstecken. Dies funktioniert meist recht gut — zu dem Preis großer Erschöpfung, dem Gefühl „nicht richtig“ zu sein und einem reduzierten Selbstwertgefühl.
Bei den Beispielen außerhalb der Unterpunkte „Besonderheiten bei Mädchen und Frauen“ verwende ich außen Gründen der Lesbarkeit meist die männliche Form „Autist“. In den beschrieben Beispielen werden sich aber sicher auch viele Autistinnen wiedererkennen und sind natürlich auch mit angesprochen.
Die meisten Betroffenen ziehen es im übrigen vor, als Autistin oder Autist bezeichnet zu werden, da sie es als Teil ihrer Identität sehen, und nicht als „Person mit Autismus“, als ob es eine Krankheit oder Störung wäre, wie es in der offiziellen Diagnose „Autismusspektrum-Störung“ ja leider pathologisiert wird. Die Idee der Neurodivergenz — also einfach abweichend „verkabelter“ Neuronen als Normvariante — wird daher in der wachsenden und erfreulicherweise zunehmend selbstbewußten Autismus-Community bevorzugt verwendet.
Ich lade Sie in diesem Buch ein, Autismus auf eine neue Weise zu entdecken – durch eine Kombination aus Wissenschaft und Leben, Theorie und Praxis, Regeln und Ausnahmen.
Ich hoffe, dieses Buch hilft Ihnen, die Welt aus einer neuen Perspektive zu sehen und die Vielfalt autistischer Menschen besser zu verstehen.
Viel Freude beim Lesen!
Ingelheim, im März 2025
Dr. med. Barbara Gorißen
Abschnitt 1: Einführung in die Diagnostik
1. Leitlinie und Klassifikationssysteme — worauf sich die Diagnostik stützt
Wenn man über medizinische Diagnosen und Behandlungen spricht, fällt schnell der Begriff „Leitlinie“. Doch was genau ist das eigentlich?
Leitlinien sind Empfehlungen, die Ärztinnen und Ärzte sowie andere Fachpersonen dabei unterstützen sollen, Diagnosen und Behandlungen auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft durchzuführen. Sie basieren auf systematisch ausgewerteten Forschungsergebnissen, klinischer Erfahrung und Expertenkonsens. Kurz gesagt: Leitlinien sind der Kompass im oft ganz schön unübersichtlichen Dschungel medizinischer Möglichkeiten.
A. S3-Leitlinien – die Königsklasse der Empfehlungen
Nicht alle Leitlinien sind gleich. Es gibt unterschiedliche Stufen, die sich danach richten, wie umfassend sie entwickelt wurden. Eine S3-Leitlinie, wie die für Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), gehört zur höchsten Stufe. Sie wird nicht von einzelnen Personen oder Organisationen erstellt, sondern interdisziplinär von Expertengruppen, die sich intensiv mit der jeweiligen Thematik auseinandersetzen.
Die Entwicklung einer S3-Leitlinie folgt strengen methodischen Vorgaben, darunter:
S3-Leitlinien sind damit wissenschaftlich fundiert und praxisnah zugleich. Sie dienen nicht nur als Orientierung für Fachleute, sondern bieten auch Patientinnen und Patienten eine verlässliche Grundlage, auf der sie Entscheidungen über Diagnostik und Therapie treffen können.
B. Die Autismus-Leitlinie – ein Update ist überfällig
Die S3-Leitlinie zur Diagnostik von Autismusspektrum-Störungen (ASS) wurde zuletzt 2016 veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt war sie ein Meilenstein, der erstmals klare Kriterien und Empfehlungen zusammenfasste. Doch Leitlinien sind keine in Stein gemeißelten Dokumente. Sie müssen regelmäßig überarbeitet werden, um mit dem Fortschritt in Forschung und Praxis Schritt zu halten. Leider ist die Diagnostik-Leitlinie für ASS seit 2021 offiziell abgelaufen und wird derzeit überarbeitet.
Das bedeutet natürlich nicht, dass Diagnosen von Autismus-Spektrum-Störungen ins Leere laufen. Die internationale Fachwelt stützt sich weiterhin auf die aktuell gültigen Kriterien der beiden üblichen Klassifikationssysteme. Diese beiden Systeme bilden die Grundlage für die Diagnostik und sind auch der Standard, den ich in diesem Buch verwende.
Die deutsche S3-Leitlinie zur Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) orientiert sich an den internationalen Klassifikationssystemen ICD-11 und DSM-5. Sie betont die Bedeutung einer frühzeitigen Diagnose, idealerweise im Vorschulalter, um frühzeitige Fördermaßnahmen und die Planung des Schulbesuchs zu ermöglichen.
Die Leitlinie hebt hervor, dass die Diagnosestellung auf einer umfassenden klinischen Beurteilung basieren sollte, die Informationen aus verschiedenen Quellen einbezieht, darunter:
Zudem wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, komorbide Störungen zu identifizieren und in die Diagnostik einzubeziehen, da diese den Verlauf und die Therapie der ASS beeinflussen können.
Es wird empfohlen, die Diagnostik interdisziplinär durchzuführen, wobei Fachkräfte aus Medizin, Psychologie, Pädagogik und weiteren relevanten Bereichen zusammenarbeiten sollten, um eine ganzheitliche Beurteilung zu gewährleisten.
Die Leitlinie betont auch die Bedeutung der Aufklärung und Beratung von Eltern und Bezugspersonen während des diagnostischen Prozesses, um ein besseres Verständnis und einen angemessenen Umgang mit der Störung zu fördern.
Für detaillierte Informationen und spezifische diagnostische Kriterien wird auf die vollständige Leitlinie verwiesen.
2. Autismus-Diagnostik nach ICD-11 und DSM 5
A. Was ist ICD-11 uns DSM 5?
Die Diagnosekriterien für Autismusspektrumstörungen orientieren sich — wie erläutert auch in der Leitlinie — an den Definitionen der International Classification of Diseases (ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2019) und dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) der American Psychiatric Association (APA, 2013). Beide Klassifikationssysteme beschreiben wesentliche Kernbereiche der Störung, die in sozialen, kommunikativen und verhaltensbezogenen Bereichen zu spezifischen Beeinträchtigungen führen.
In der ICD-11 wird die Autismusspektrumstörung als eine einzelne Diagnose aufgeführt.
Die wesentlichen Kriterien umfassen:
1. Beeinträchtigung in sozialen Interaktionen und Kommunikation:
• Schwierigkeiten in der sozialen Gegenseitigkeit (z. B. Schwierigkeiten, Beziehungen aufzubauen oder zu verstehen).
• Probleme bei der verbalen und nonverbalen Kommunikation (z. B. abweichender Blickkontakt, Probleme mit Gestik oder Intonation).
2. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensweisen, Interessen oder Aktivitäten:
• Stereotype oder repetitive Bewegungen, Sprache oder Nutzung von Objekten.
• Rigides Festhalten an Routinen oder ritualisiertes Verhalten.
• Intensive, eingeschränkte Interessen.
• Über- oder Unterempfindlichkeit gegenüber sensorischen Reizen (z.B. Licht, Geräusche, Texturen).
3. Frühes Auftreten:
• Die Symptome müssen sich bereits in der frühen Kindheit zeigen, auch wenn sie später erst deutlich erkennbar werden können (z. B. im Schulalter).
4. Beeinträchtigung „zu funktionieren“:
• Die Symptome führen zu bedeutsamen Einschränkungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Lebensbereichen.
Das DSM-5 betrachtet ASS als ein Spektrum mit unterschiedlichen Schweregraden und fasst die früher getrennten Diagnosen (z.B. Asperger-Syndrom) zusammen. Die Kriterien umfassen:
1. Dauerhafte Defizite in sozialer Kommunikation und sozialen Interaktionen (alle drei Punkte müssen erfüllt sein):
• Probleme mit der sozialen Gegenseitigkeit (z. B. abweichende soziale Annäherung, mangelndes Interesse an sozialen Interaktionen).
• Defizite in der nonverbalen Kommunikation (z. B. eingeschränkte Gestik, Mimik oder Körpersprache).
• Schwierigkeiten beim Aufbau, Aufrechterhalten und Verstehen von Beziehungen.
2. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten (mindestens zwei der folgenden müssen erfüllt sein):
• Stereotype oder repetitive Bewegungen, Sprache oder Nutzung von Objekten.
• Starke Bindung an Routinen, ritualisiertes Verhalten oder Widerstand gegen Veränderungen.
• Intensive und stark eingegrenzte Interessen, die ungewöhnlich in ihrer Intensität oder ihrem Fokus sind.
• Hyper- oder Hyposensitivität gegenüber sensorischen Reizen oder ungewöhnliches Interesse an sensorischen Aspekten der Umgebung (z. B. Gerüche, Geräusche, Texturen).
3. Frühkindlicher Beginn:
• Symptome müssen in der frühen Entwicklungsphase vorhanden sein (können jedoch durch kompensatorische Strategien erst später offensichtlich werden).
4. Klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen:
• Die Symptome führen zu erheblichen Beeinträchtigungen im sozialen, schulischen oder beruflichen Bereich.
5. Differentialdiagnose:
• Die Symptome können nicht besser durch eine intellektuelle Entwicklungsstörung oder globale Entwicklungsverzögerung erklärt werden.
B. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Beide Systeme fokussieren auf soziale und kommunikative Beeinträchtigungen sowie auf repetitive Verhaltensmuster und sensorische Besonderheiten.:
Das DSM-5 hat eine genauere Auflistung der Schweregrade und fokussiert stärker auf die klinische Beurteilung der Symptome.
Die ICD-11 ist oft allgemeiner formuliert und eher für die Anwendung im internationalen Kontext gedacht.
Dieses Buch wird in den folgenden Abschnitten die Diagnosekriterien nun Symptom für Symptom mit Leben füllen — durch über 1000 Symptombeisspiele, die sehr anschaulich zeigen, wie Autisten denken und fühlen. Insbesondere soll auch beleuchtet werden, wie sich die Diagnosekriterien von ICD-11 und DSM5 bei Mädchen und Frauen darstellen, bei denen Autismus aufgrund ihres besseren „Maskings“ leider immer noch oft übersehen wird.
Ich bitte dabei auch immer den Spruch zu berücksichtigen, den man oft in der Autismus-Community in den Sozialen Medien hört: „Kennst Du einen Autisten, kennst Du EINEN Autisten.“ Autismus ist ein sehr breites Spektrum, wie bei der Lektüre dieses Buches klar werden wird. Es müssen bei weitem nicht alle nachfolgend vorgestellten Symptombeispiele zutreffen, damit eine Autismus-Diagnose gestellt werden kann. Und viele der vorgestellten Symptombeispiele können auch bei Nicht-Autisten auftreten. Das macht die Diagnostik auch so komplex und zeitaufwändig
Abschnitt 2: Über 1000 Symptombeispiele für die Diagnosekriterien
1. Schwierigkeiten bei sozialer Gegenseitigkeit
Kommen wir also zum ersten Punkt, der in beiden Kriterienkatalogen als Diagnosekriterium verlangt wird: „Schwierigkeiten bei sozialer Gegenseitigkeit“.
Was ist damit gemeint?
Im folgenden habe ich einmal in verschiedenen thematischen Bereichen typische Symptome und Symptom-Beispiele für diese Kategorie zusammengetragen, die ich jeweils näher erläutere.
A. Probleme im Kontext von Gesprächen
Probleme, Gespräche am Laufen zu halten
Autisten fühlen sich besonders in Gesprächen mit Menschen, die sie nicht gut kennen, oft unsicher. Dies liegt daran, dass sie Gesprächsregeln und -dynamiken nicht intuitiv erfassen können. Was für neurotypische Menschen selbstverständlich ist – etwa eine Begrüßung mit einer kleinen Floskel oder das Stellen einer Gegenfrage – muss von Autisten mühsam erlernt und bewusst angewendet werden. Gespräche wirken dadurch oft steif oder verkrampft, was beide Seiten verunsichern kann.
Beispiele:
Die Schwierigkeiten, ein Gespräch zu beginnen oder am Laufen zu halten, sind für viele Autisten eine der größten Herausforderungen im sozialen Miteinander. Sie resultieren oft aus dem fehlenden Gespür für soziale Dynamiken, das durch bewusste Anstrengung kompensiert werden muss. Das führt jedoch zu einem hohen Energieaufwand, der Gespräche anstrengend und belastend macht.
Mangelndes Interesse und Schwierigkeiten mit Smalltalk
Autisten tun sich oft schwer mit Smalltalk, da sie diesen nicht als sinnvolle Kommunikationsform betrachten. Während Smalltalk für viele neurotypische Menschen eine Möglichkeit ist, eine Verbindung herzustellen und soziale Nähe aufzubauen, wird er von Autisten häufig als inhaltsleer und anstrengend empfunden. Da Smalltalk wenig mit konkretem Informationsaustausch zu tun hat, fehlt ihnen häufig der Zugang dazu – sowohl inhaltlich als auch emotional.
Beispiele:
Smalltalk ist für viele Autisten eine große Herausforderung, da er auf sozialen Regeln basiert, die nicht intuitiv verstanden werden. Für Autisten, die sich durch Smalltalk dennoch anzupassen versuchen, ist dies oft sehr anstrengend und führt nicht selten dazu, dass sie solche Situationen lieber meiden. Dabei empfinden sie den Verzicht auf Smalltalk nicht als Verlust, sondern eher als Erleichterung, da sie Gespräche bevorzugen, die ihnen inhaltlich oder emotional etwas bedeuten.
Oversharing
Oversharing beschreibt die Tendenz, mehr persönliche Informationen oder Details preiszugeben, als in der sozialen Situation angemessen ist. Für Autisten ergibt sich dieses Verhalten oft aus ihrem Bedürfnis nach Ehrlichkeit, ihrem mangelnden Gespür für soziale Konventionen und besonders aus dem Wunsch, sich zu erklären und verstanden zu werden. Sie möchten Missverständnisse ausräumen oder den eigenen Standpunkt so detailliert darlegen, dass keine Unklarheiten mehr bleiben – was allerdings oft das Gegenteil bewirkt.
Beispiele:
Oversharing entsteht also nicht aus böser Absicht. Vielmehr kommt es aus der direkten und ehrlichen Art von Autisten sowie aus ihrer Schwierigkeit, soziale Grenzen intuitiv zu erkennen. Für das Gegenüber kann diese Offenheit jedoch überfordernd wirken, was zu Unverständnis oder Abwehr führt. Autisten, die negative Reaktionen auf Oversharing erleben, ziehen sich oft zurück oder fühlen sich in sozialen Situationen noch unsicherer.
Und Oversharing, das aus dem Bedürfnis nach Erklärung und Verständnis entsteht, zeigt somit die Bemühungen vieler Autisten, sich in sozialen Situationen zurechtzufinden und Missverständnisse zu vermeiden. Jedoch wird diese Offenheit nicht immer als positiv wahrgenommen, was bei Autisten wiederum Unsicherheiten und Rückzugstendenzen verstärken kann.
Infodumping
Infodumping bezeichnet die Angewohnheit, ausführlich und detailreich über ein Spezialinteresse zu sprechen – oft unabhängig davon, ob der Gesprächspartner daran interessiert ist oder nicht. Für Autisten ist das Teilen ihres Wissens eine Form, Begeisterung auszudrücken und sich zu verbinden. Doch da sie die Reaktionen ihres Gegenübers oft nicht richtig deuten können, kann dieses Verhalten als unangemessen oder dominierend wahrgenommen werden.
Beispiele:
Infodumping ist also überhaupt keine absichtliche Unhöflichkeit, sondern Ausdruck von Leidenschaft. Doch da Autisten die Reaktionen ihres Gegenübers oft nicht erkennen, kann es zu Missverständnissen und sozialer Distanz führen. Gleichzeitig erleben Autisten Frustration, wenn ihre Begeisterung nicht geteilt wird, was wiederum das Gefühl von Isolation verstärken kann.
Gespräche dominieren, ohne es zu merken
Autisten können oft unabsichtlich Gespräche dominieren, ohne sich dessen bewusst zu sein. Dies geschieht vor allem in Situationen, in denen sie über ein Thema sprechen, das sie besonders interessiert. Sie sind so in ihrem Gedankenfluss und ihrer Begeisterung gefangen, dass sie die Reaktionen oder das Desinteresse ihres Gegenübers nicht bemerken. Ein häufiger Grund für dieses Verhalten ist die Schwierigkeit, subtile nonverbale Signale zu erkennen, die normalerweise darauf hinweisen würden, dass das Gegenüber das Thema wechseln möchte oder sich zurückzieht.
Beispiele:
Diese Beispiele zeigen, wie Gespräche dominieren zu einem Missverständnis führen kann. Während der Autist versucht, seine Begeisterung oder sein Wissen zu teilen, wird dieses Verhalten häufig als unhöflich oder egozentrisch wahrgenommen. Das verstärkt die Wahrscheinlichkeit, dass soziale Interaktionen für beide Seiten als unangenehm empfunden werden und Autisten sich in Zukunft mehr zurückziehen.
Überforderung durch Gruppengespräche
Gruppengespräche stellen für viele Autisten eine besondere Herausforderung dar. Sie sind oft dynamisch und erfordern das gleichzeitige Verarbeiten mehrerer nonverbaler und verbaler Signale. Dies kann schnell zu Überforderung führen, da das Timing, die Themenwechsel und die Gruppendynamik schwer zu durchschauen sind.
Beispiele:
Gruppengespräche verlangen ein hohes Maß an Flexibilität und die Fähigkeit, verschiedene Signale gleichzeitig zu verarbeiten. Autisten empfinden solche Gespräche häufig als chaotisch und überwältigend, was zu Rückzug, Missverständnissen oder Unsicherheiten führt. Mit klaren Strukturen und vorhersehbaren Abläufen können Gruppensituationen jedoch erleichtert werden.
Besonderheiten bei Mädchen und Frauen
Autismus äußert sich bei Mädchen und Frauen oft anders als bei Jungen und Männern, was dazu führt, dass er seltener erkannt wird. Im Bereich der Gespräche zeigt sich das insbesondere durch eine stärkere Anpassungsfähigkeit und eine bewusste Anstrengung, soziale Erwartungen zu erfüllen.
Beispiele:
Mädchen und Frauen im Autismus-Spektrum setzen oft Masking-Techniken ein, um sich in Gesprächen anzupassen. Dies führt dazu, dass ihre Schwierigkeiten übersehen werden, da sie nach außen hin gut integriert wirken. Doch diese Anpassungsleistung ist oft mit großem inneren Stress verbunden, der langfristig zu Erschöpfung oder sozialem Rückzug führen kann.
B. Sprache und Verständnis
Wörtliches Verständnis von Sprache
Autisten nehmen Sprache häufig wörtlich, da sie Schwierigkeiten haben, den übertragenen oder metaphorischen Sinn von Aussagen zu erkennen. Während neurotypische Menschen intuitiv verstehen, wenn Redewendungen, Ironie oder Sarkasmus verwendet werden, fehlt es Autisten oft an dieser intuitiven Deutungskompetenz. Stattdessen konzentrieren sie sich auf die genauen Worte und deren wörtliche Bedeutung.
Beispiele:
Das wörtliche Verständnis von Sprache führt dazu, dass Autisten oft in Situationen geraten, die für sie verwirrend oder frustrierend sind. Missverständnisse entstehen, weil sie die subtilen Nuancen und den Kontext von Sprache nicht intuitiv erfassen. Für Außenstehende wirkt dieses Verhalten manchmal naiv oder distanziert, obwohl es in Wahrheit eine andere Art ist, die Welt zu interpretieren.
Schwierigkeiten, indirekte Aussagen zu verstehen
Autisten haben oft Probleme mit indirekten oder impliziten Aussagen, da sie Sprache häufig wörtlich und ohne Subtext interpretieren. Während neurotypische Menschen viele Aussagen mit Zwischentönen oder Andeutungen verstehen, benötigen Autisten meist explizite Formulierungen, um den tatsächlichen Sinn zu erfassen.
Typische Beispiele:
Indirekte Sprache erfordert oft ein Verständnis für Kontext, Tonfall und nonverbale Hinweise, die für Autisten schwer zugänglich sind. Dies führt zu Missverständnissen und der Wahrnehmung, Autisten seien „unsensibel“ oder „seltsam“. Klarheit und direkte Formulierungen helfen, solche Schwierigkeiten zu vermeiden.
Missverstehen von Scherzen oder Neckereien
Autisten haben oft Schwierigkeiten, Scherze oder Neckereien zu erkennen, da diese meist auf subtilen Hinweisen wie Tonfall, Mimik oder Kontext basieren. Für neurotypische Menschen sind diese Signale intuitiv verständlich, während Autisten sie nicht oder nur schwer deuten können. Statt einen Scherz als humorvoll wahrzunehmen, wird er häufig wörtlich interpretiert oder als Kritik missverstanden.
Beispiele:
Autistische Menschen haben oft einen ausgeprägten, kreativen und oft außergewöhnlichen Humor, der sich von neurotypischem Humor unterscheidet. Dieser Humor kann sowohl ein Ventil als auch eine Möglichkeit zur Verbindung sein – doch die Angst vor Missverständnissen führt dazu, dass viele Autisten ihren Humor zurückhalten. Die fehlende Resonanz oder das Unverständnis anderer kann dabei das Gefühl verstärken, „anders“ zu sein.
Umgekehrt können die Schwierigkeiten, Scherze oder Neckereien von Neurotypischen zu verstehen, bei Autisten zu Missverständnissen oder belastenden sozialen Situationen führen. Während sie selbst oft nicht beabsichtigen, humorlos zu wirken, empfinden sie den sozialen Humor als schwer verständlich. Dies führt häufig zu Unsicherheiten oder einem Rückzug aus Situationen, in denen Humor eine zentrale Rolle spielt.
Selbst kaum Witze oder Scherze machen
Viele Autisten machen selten Witze oder Scherze, da sie Humor anders wahrnehmen und nutzen als neurotypische Menschen. Oft resultiert dies aus Unsicherheiten: Sie wissen nicht, wie ihr Humor ankommt, ob er passend ist oder wie andere darauf reagieren. Manche empfinden Humor auch als „unpraktisch“, weil er nicht dem direkten Informationsaustausch dient, den sie in Gesprächen bevorzugen.
Beispiele:
Autisten verzichten oft bewusst auf Humor, um Unsicherheiten und Missverständnissen aus dem Weg zu gehen. Dies wird von anderen manchmal als „Humorlosigkeit“ wahrgenommen, obwohl es in Wahrheit auf tiefere soziale Unsicherheiten oder auf ein anderes Verständnis von Kommunikation zurückzuführen ist. In vertrauten Umgebungen kann ihr Humor jedoch durchaus lebendig und kreativ sein.