22 psychotherapeutische Wege zu einem gesunden „Nein“



Dr. med. Barbara Gorißen





Impressum:


Dr. med. Barbara Gorißen

Wilhelm-von-Erlanger-Straße 22a

55218 Ingelheim


www.Praxis-Dr-Gorissen.de

barbara.gorissen@proton.me


Copyright: Dr. Barbara Gorißen 2024; Alle Rechte vorbehalten

Herstellung durch Amazon Distribution GmbH

ISBN: 9798884027534

Imprint: Independently published


Autorin: Gesetzliche Berufsbezeichnung Ärztin. 

Berufsbezeichnung verliehen in der Bundesrepublik Deutschland. Es besteht die Facharztbezeichnung Innere Medizin, nach Weiterbildung und Prüfung verliehen von der Landesärztekammer Hessen. Die Zusatzbezeichnungen fachbezogene Psychotherapie, Palliativmedizin und Notfallmedizin wurden ebenfalls von der Landesärztekammer Hessen verliehen.

Zuständige Ärztekammer/Aufsichtsbehörde: 

Bezirksärztekammer Rheinhessen



INHALT

Prolog 13

Zeit gewinnen 17

Das Kopfkino kontrollieren 23

Fehler sind toll 29

Respekt 37

Viel Feind, viel Ehr 45

Der Innere Richter 51

Der faule Apfel 59

Verhandeln auf Augenhöhe 65

Safe und unsafe 73

Nachfragen statt interpretieren 79

Die Na-und- Haltung 87

Reise in die Vergangenheit 95

Selbstfürsorge ist kein Luxus 101

Lernen Sie        Visualisieren 107

Perfektion ist der Wolf im Schafspelz 113

Count your blessings 119

Wie reden Sie denn mit sich? 125

„Nein“ ist ein ganzer Satz. Oder nicht? 131

Keine Angst vor Rollenspielen 137

„Nein“-Sagen wie ein guter Schauspieler 147

GlasKlar statt indirekt 155

Motivierende Briefe an sich selbst 165

Schlusswort 171


Prolog

„Ich habe eine riesige Angst, etwas falsch zu machen. Von anderen Menschen nicht gemocht zu werden. Vor allem natürlich von nahestehenden Menschen, aber auch von entfernteren Menschen, und sogar vor Fremden. Ich habe deshalb auch große Angst, ‚Nein‘ zu sagen. Meistens sage ich ‚Ja‘, obwohl ich eigentlich ‚Nein‘ sagen will, und ärgere mich hinterher. Über mich selbst natürlich. Über wen denn auch sonst… Wenn es mir gerade gut geht, wenn ich mich entspannt und zufrieden fühle, und plötzlich deutet jemand an, dass ich einen Fehler gemacht habe, oder äußert sogar ganz offen Kritik an mir, dann erstarre ich innerlich zu einer Salzsäule. Äußerlich lasse ich mir aber natürlich nichts anmerken, sondern versuche cool und sachlich zu bleiben.“

Dieses Zitat spiegelt den Gedankengang wider, den so viele von uns mehr als nur ein bisschen kennen. Es zeigt die stille Resignation in den Köpfen so vieler Menschen, deren Leben eine ungeheure Wendung zum Besseren nehmen könnte: Wenn sie lernen, ihre eigenen Grenzen überhaupt zu erkennen und dann auch zu kommunizieren. Dieses Buch nimmt Sie darum an die Hand und führt Sie durch die oft ganz schön unübersichtlichen Pfade der Selbstfindung und Selbstbehauptung. Es ist eine Reise, auf der Sie nach und nach lernen werden, „Nein“ zu sagen — und zwar nicht aus Trotz oder Selbstsucht, sondern aus einem tiefen Verständnis für Ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche heraus. Wir werden also gemeinsam erkunden, wie das „Ja“-Sagen, wenn wir eigentlich „Nein“ meinen, uns behindert, und wie wir uns durch das klare Setzen von Grenzen tatsächlich Freiräume schaffen können. Freiräume, in denen wir atmen, wachsen und uns entfalten können. 

Dieses Buch bietet 22 handfeste und praktische Strategien, mit denen Sie lernen können, sich selbst treu zu bleiben. Und zwar ohne dabei die Harmonie mit Ihrer Umwelt zu opfern. Es geht einfach darum, ein Gleichgewicht zu finden – zwischen Geben und Nehmen, zwischen Selbstfürsorge und Fürsorge für andere.

In den folgenden 22 anschaulichen Kapiteln werden wir gemeinsam dem Phänomen auf den Grund gehen, warum es uns so denn schwerfällt, „Nein“ zu sagen, und wie wir diese Angst womöglich überwinden können.Sie werden entdecken, dass das „Nein“-Sagen nicht nur eine Art Selbstverteidigung ist, sondern tatsächlich auch ein Akt der Selbstliebe und des Respekts gegenüber den eigenen Grenzen und Bedürfnissen. Aber auch ein Akt der Klarheit und des Respekts den anderen Menschen gegenüber. Denn die wissen dann schließlich auch, woran Sie mit Ihnen sind. Und vor allem: Sie können sich darauf verlassen, dass Ihr “Ja“ auch wirklich ein „Ja“ ist.

Am Ende dieser Reise werden Sie nicht nur viel besser in der Lage sein, „Nein“ zu sagen, ohne sich schuldig zu fühlen oder Angst vor Ablehnung zu haben. Sondern Sie werden auch ein tieferes Verständnis und eine größere Wertschätzung für das mächtige Wort „Ja“ entwickeln – denn jedes bewusst gewählte und auch so gemeinte „Ja“ zu etwas ist auch ein „Nein“ zu allem, was Ihre Energie und Ihr Wohlbefinden untergräbt. Schnallen Sie sich also an für eine Reise zu mehr Authentizität, Selbstbewusstsein und persönlicher Freiheit. Willkommen zu dem Abenteuer, „Nein“ zu sagen.

Ingelheim, März 2024

Dr. Barbara Gorißen



Weg Nr. 1 zum Ziel

Zeit gewinnen

Warum lassen Sie sich eigentlich immer wieder überrumpeln? Probieren Sie mal einen geheimen Zaubersatz: „Ich denke darüber nach.“ 

Lassen Sie sich nicht unter (Zeit-)Druck setzen

Es gibt einen Verkaufstrick, der ist so einfach und wirkungsvoll, dass ihn jeder Verkäufer kennt. Und dieser Verkaufstrick lautet: Setze den Käufer unter Zeitdruck, und du hast ihn in der Hand. „Ich brauche Ihre Entscheidung sofort, denn ich habe noch einen anderen Interessenten, und die Verhandlung mit dem ist praktisch schon abgeschlossen!“ 

Fallen Sie drauf herein? Die Wahrscheinlichkeit ist tatsächlich groß. Denn selbst ohne solchen Druck von außen glauben sehr viele Menschen, dass eine an sie herangetragene Bitte sofort erfüllt werden muss. Und selbstverständlich darf eine Bitte niemals abgeschlagen werden, sonst — ja, was passiert sonst eigentlich? Das erinnert ein wenig an die Standard-Erziehungssituation, in der ein Elternteil sich zu dem brandgefährlichen Satz hinreißen lässt: „Ich zähle bis drei, dann passiert was!“ Und beim langsamen, bedrohlichen Hochzählen („…zwei …zwei einhalb…“) wird dem Erziehungsberechtigten dann klar: Dieser Bluff kann gleich gewaltig nach hinten losgehen, wenn herauskommt, dass bei drei eigentlich überhaupt nichts passiert. Die Welt dreht sich einfach weiter, und man hat lediglich seine Glaubwürdigkeit verloren. Was für ein Glück, dass der Nachwuchs das nicht weiß und meist bei „zwei dreiviertel“ dann doch noch das tut, was er soll.

An eine solche Szene erinnern wir uns wohl noch alle aus der eigenen Kindheit, als wir eben nicht auf Augenhöhe mit den Erwachsenen über Dinge wie Zimmer aufräumen oder Hausaufgaben machen verhandeln konnten. Wenn unsere Eltern solche Dinge an uns herantrugen, waren das keine Bitten, und wir hatten keine Wahlmöglichkeit, diese Dinge auch einfach abzulehnen. Mehr noch: Es wurde nicht nur von uns erwartet, dass wir die Dinge, die uns aufgetragen wurden, ausführen, sondern es war auch vollkommen klar, wann dies zu geschehen hatte: nämlich SOFORT. Womit wir also geklärt hätten, woher unsere tief sitzende Überzeugung stammt, dass eine an uns herangetragene Bitte sofort erfüllt werden muss, und dass ein „Nein“ einfach nicht akzeptabel ist. Heute sind wir erwachsen, aber wir schleppen eben den ganzen Rucksack voller Erfahrungen mit, die wir seit unserer Kindheit gesammelt haben. Und trotz all unserer Reife und Weisheit reagieren wir manchmal immer noch wie das Kind von damals, das glaubte, es müsse jede Bitte sofort erfüllen — und ein „Nein“? Das war so selten wie ein Einhorn im Wohnzimmer. In diesem Licht betrachtet verwundert es dann wohl auch eher nicht mehr, dass wir uns so leicht unter Druck gesetzt fühlen, jede Bitte sofort umsetzen zu müssen. Das alte Muster der kindlichen Gehorsamkeit ist eben immer noch tief in uns verankert und meldet sich zu Wort, sobald jemand — sei es ein Verkäufer mit einem zeitlich begrenzten Angebot oder ein Freund, der um einen Gefallen bittet — an unsere Tür klopft.

Doch hier kommt die gute Nachricht: Wir sind nicht mehr die Kinder von damals. Und wir brauchen nur eine kurze Atempause, um uns dies bewusst zu machen. Wir haben die Fähigkeit, innezuhalten, zu reflektieren und dann ganz bewusst zu entscheiden. Der Schlüssel zum Ausbruch aus diesem Kreislauf automatischer Reaktionen liegt einfach darin, uns ausreichend Zeit zum Nachdenken zu nehmen. Und genau deshalb versuchen geschickte Verkäufer, dies zu verhindern und uns unter Zeitdruck zu setzen. Denn genau dieses kurze Innehalten und damit die Rückkehr in die Selbstbestimmtheit eines Erwachsenen soll abgeblockt werden werden.

„Ich denke darüber nach.“

Dieser einfache Satz ist der Ausweg aus dem Dilemma und ein wirklich mächtiges Werkzeug in Ihrem Arsenal der Selbstfürsorge. Wenn Sie das nächste Mal mit einer Anfrage konfrontiert werden, atmen Sie tief durch und sagen Sie ruhig und freundlich: „Ich denke darüber nach.“ Dies gibt Ihnen die notwendige Zeit, um wirklich zu evaluieren, ob Sie diese Anfrage erfüllen wollen und können. Es geht nicht darum, sich vor der Verantwortung zu drücken, sondern es geht darum, sich die nötige Zeit zu nehmen, eine wohlüberlegte Entscheidung zu treffen. Sie haben das Recht, Ihre eigenen Grenzen zu setzen und Entscheidungen zu treffen, die für Sie richtig sind. Vergessen Sie nicht, dass ein „Ja“ unter Druck oft zu Ressentiments und Überforderung führt, während ein ehrliches „Nein“ oder ein „Ich brauche mehr Zeit zum Überlegen“ Ihre Integrität bewahrt und Ihnen Respekt bei anderen sichert – und vor allem bei sich selbst.

Sich diese Pause zu nehmen bedeutet nicht, schwach oder unentschlossen zu sein. Ganz im Gegenteil: Es ist ein Zeichen von Stärke und Selbstbewusstsein. Es zeigt, dass wir uns unserer eigenen Grenzen bewusst sind und uns die Freiheit nehmen, diese zu respektieren. In dem Moment, in dem wir uns diese Freiheit auch zugestehen, beginnen wir, die automatische Verknüpfung zwischen einer Bitte und der scheinbaren Notwendigkeit, sie zu erfüllen, zu lösen. Wir lernen, dass ein „Nein“ eine genauso gültige und respektvolle Antwort sein kann wie ein „Ja“ – und dass wir das Recht haben, sie zu verwenden. Indem wir „Ich denke darüber nach und lasse es dich wissen“ zu einem festen Bestandteil unseres Vokabulars machen, gewinnen wir nicht nur Zeit zum Nachdenken, sondern auch den Raum für persönliches Wachstum. Wir erlauben uns endlich, aus dem Schatten der Kindheit ins Licht unserer eigenen, selbstbestimmten Erwachsenenwelt zu treten. So wird aus dem kleinen, gehorsamen Kind, das wir einmal waren, ein selbstbewusster Erwachsener, der die Zügel des Lebens fest in den eigenen Händen hält. Wir werden zu den Regisseuren unserer eigenen Geschichte, in der wir die Freiheit haben, „Ja“ zu sagen, wenn wir es wirklich so meinen, und „Nein“ zu sagen, wenn es notwendig ist.



Weg Nr. 2 zum Ziel

Das Kopfkino kontrollieren

Im Theater unseres Geistes werden oft die dramatischsten Szenarien aufgeführt, besonders wenn es darum geht, unsere eigenen Grenzen zu verteidigen. Wie können wir das Drehbuch unseres Lebens wieder selbst in die Hand nehmen? Machen Sie doch einfach einmal ein wissenschaftliches Experiment. 

Kopfkino oder Wirklichkeit?

Haben Sie sich schon einmal dabei ertappt, wie Ihr Geist wilde Geschichten spinnt, sobald jemand etwas von Ihnen will? Plötzlich spielen sich Szenarien ab, in denen Sie entweder als Held dastehen, der den Tag (oder womöglich sogar die gesamte Welt) rettet, oder als Bösewicht, der jemanden im Stich lässt. Genau deshalb fällt es Ihnen ja auch so schwer, „Nein“ zu sagen. Sie wollen nicht als Bösewicht dastehen, Sie wollen der geliebte und gefeierte Held sein! Doch machen Sie sich bitte eins klar: Dieses Spiel ist nicht zu gewinnen. Weder das eine noch das andere wird vermutlich passieren. Denn egal, ob Held oder Bösewicht, dieses Kopfkino ist meist ganz weit entfernt vom echten Leben. Es ist einfach wichtig zu erkennen, dass nicht jede Bitte an Sie eine Katastrophe nach sich zieht, wenn Sie „Nein“ sagen. Fast immer ist die Angst vor den Konsequenzen viel schlimmer in unserem Kopf als in der Realität. 

Experimentieren Sie also doch einfach mal damit, zu überprüfen, ob die fiktiven Geschichten in Ihrem Kopf tatsächlich auch dem Ausgang der Situation entsprechen — oder eben nicht. Dieser Schritt ist absolut entscheidend, wenn Sie sich nicht länger von unbegründeten Ängsten leiten lassen wollen. In der Psychotherapie nennt man dies eine „korrigierende Erfahrung“. Sie können dies angehen, indem Sie als erstes einmal damit beginnen, typische Situationen, in denen Sie sich immer wieder befinden und in denen Sie glauben, dass nur ein „Ja“ Ihnen einen Ausweg bietet, ganz genau zu untersuchen. Und zwar bitte nicht nur in Ihrem Kopf, sondern ganz konkret mit Papier und Bleistift.

Ein wissenschaftliches Experiment

Und dabei gehen Sie einfach neugierig, sachlich und strukturiert ans Werk, genau so, wie ein Wissenschaftler das ebenfalls tun würde:

1. Beobachtung der Ausgangslage: Erinnern Sie sich an eine Situation, in der jemand eine Bitte an Sie gerichtet hat. Fällt Ihnen da etwas ein? Prima. Notieren Sie die Situation genau: Was wurde von Ihnen verlangt? Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Was war das Szenario in Ihrem Kopf, und wie stark hat es sich von der Realität unterschieden? Letzteres können Sie natürlich am objektivsten beurteilen, wenn Sie Menschen, denen Sie vertrauen, und die die Situation miterlebt haben, dazu befragen.

2. Hypothese: Stellen Sie eine Annahme auf, was passieren könnte, wenn Sie das nächste Mal in einer ähnlichen Situation „Nein“ sagen. Vielleicht befürchten Sie, dass die andere Person verärgert oder enttäuscht sein wird. Oder Sie glauben, dass es zu einem Konflikt kommen könnte. 

3. Experiment: Wagen Sie es bei der nächsten derartigen Gelegenheit tatsächlich einmal, „Nein“ zu sagen. Seien Sie dabei so höflich und bestimmt wie möglich. Bereiten Sie sich auf diesen Schritt vor, indem Sie sich mögliche Reaktionen möglichst genau ausmalen: Wie könnte Ihr Gegenüber darauf reagieren? Was befürchten Sie, was erhoffen Sie?

4. Beobachtung des Verlaufs: Was passiert tatsächlich, nachdem Sie „Nein“ gesagt haben? Wie reagiert die Person? Wie fühlen Sie sich dabei?

5. Schlussfolgerung: Vergleichen Sie das tatsächliche Ergebnis mit Ihrer Hypothese. Waren Ihre Befürchtungen berechtigt? Oft werden Sie feststellen, dass die Reaktionen viel milder ausfallen als erwartet, oder dass ein „Nein“ sogar Respekt und Verständnis nach sich zieht. In der Psychotherapie nennt man dies eine „korrigierende Erfahrung“, und es ist einer der wirkungsvollsten Wirkungsmechanismen überhaupt.


Bitte nicken Sie jetzt nicht einfach zustimmend, sondern werden Sie wirklich aktiv und führen Sie diese Übung  jetzt direkt einmal durch! Denn damit signalisieren Sie Ihrem Unbewussten, dass Ihnen das Thema wirklich wichtig ist. So wichtig, dass Sie jetzt tatsächlich aufstehen, zu Papier und Bleistift greifen und sich ans wissenschaftliche Experiment machen. Bitte glauben Sie mir: Dieser Prozess hilft Ihnen, Ihre irrationalen Ängste zu entlarven und zu erkennen, dass das „Nein“-Sagen nicht nur möglich, sondern oft auch die gesündere Option für Sie und Ihre Beziehungen ist. Es wird Ihnen auch zeigen, dass Sie nicht für die Reaktionen anderer verantwortlich sind. Ihre Aufgabe ist es, Ihre eigenen Grenzen zu wahren und sie auch zu kommunizieren. Ihre Aufgabe ist es dagegen NICHT, es allen recht zu machen. Mit der Zeit und etwas Übung werden Sie feststellen, dass Ihr Kopfkino sich nach und nach beruhigt. Sie werden sich in Ihrer Fähigkeit, „Nein“ zu sagen, sicherer fühlen und erkennen, dass Sie weder ein Held noch ein Bösewicht sind. Sondern einfach ein Mensch, der seine Grenzen immer besser kennenlernt und respektiert. So gewinnen Sie nicht nur Respekt bei anderen, sondern stärken auch Ihr Selbstwertgefühl und Ihre Selbstachtung. Aus dem Teufelskreis ist eine Aufwärtsspirale geworden.




Weg Nr. 3 zum Ziel

Fehler sind toll

Die meisten Menschen starren auf Fehler wie ein Kaninchen auf die Schlange. Dabei sind Fehler doch nichts anderes als der Beweis, dass wir gerade etwas dazulernen. 


Fakt: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.

Schauen wir uns doch einmal an, wie ein Kind Laufen lernt. Steht es denn auf und läuft einfach los? Natürlich nicht! Es steht auf und fällt hin, und zwar wieder und wieder und wieder.Was für ein Glück, dass das Kind noch nicht erwachsen ist. Denn sonst wäre seine Reaktion wahrscheinlich: „Also, ganz offensichtlich ist Laufen nichts für mich. Ich sollte es wieder sein lassen. Ich mache mich ja lächerlich. Meine Eltern können ja auch laufen, spielend leicht sogar. Und ich? Offensichtlich vollkommen untalentiert. Aber da kann man wohl nichts machen. Ich bin einfach ein Verlierer. Ich gebe auf.“ Was ist denn die tatsächliche Reaktion des Kindes? Von Resignation keine Spur! Frust, ja. Natürlich. Da fließt auch schon die ein oder andere Träne des Zorns. Aber aufgeben? Von Wegen!  „Jetzt erst recht“, scheint in dem kleinen Köpfchen zu stehen. Unbeirrt steht das Kind wieder auf und versucht es erneut. Und erneut. Und erneut. Und wird von Mal zu Mal besser und geschickter.

Was hinter der Angst vor Fehlern steckt

Sind Sie immer bestrebt, einen guten Eindruck zu machen? Dann haben Sie vermutlich auch eine große Angst davor entwickelt, Fehler zu machen. Und dann fürchten Sie wahrscheinlich auch Kritik, denn die würde doch beweisen, dass Ihre schlimmste Befürchtung zutrifft: wieder mal nicht gut genug zu sein. Auf diese Angst kommen wir in einem späteren Kapitel zurück. Jetzt möchte ich Sie zunächst einmal zu einem Wechsel der Perspektive einladen. Es gibt den Satz: Schau Dir an, was ein Mensch am häufigsten macht, und Du weißt, was er am besten kann! Und da ist etwas dran. Der Tag hat nur 24 Stunden. Das bedeutet, jeder von uns muss jeden Tag entscheiden, wofür er diese 24 Stunden verwendet. Wer nun etwas Neues lernen möchte — sagen wir mal, ein Musikinstrument zu spielen — dem bleibt nichts anderes übrig, als ausreichend Zeit hierfür abzuzwacken. 

Und stellen wir uns nun zwei Jugendliche vor, Tim und Tom. Beide möchten gerne Klavierspielen lernen und melden sich gleichzeitig bei der ehemaligen Pianistin Madame Leson zum Unterricht an. Madame Leson merkt schnell, dass Tim ein echtes Naturtalent ist. Er begreift die Grundlagen in kürzester Zeit, die Musik fliegt ihm in Theorie und Praxis einfach so zu, und Madame Leson hat sogar den Verdacht, dass Tim das „absolute Gehör“ haben könnte. Tom dagegen kann sie nur als untalentiert bezeichnen (in Gedanken natürlich, selbstverständlich sagt sie ihm das nicht, um ihn nicht zu entmutigen!). Er scheint zwei linke Hände zu haben, hat kein besonders gutes musikalisches Gehör und stellt die Geduld von Madame Leson auf eine harte Probe. Aber eine Sache hat Tom, die Tim fehlt: eine glühende Begeisterung und Liebe zum Klavierspielen. Und er lässt sich nicht von seinen vielen Fehlern beirren, denn was hat er schon zu verlieren? Er kann ja nur besser werden! Außerdem liebt er die Musik, und ob Madame Leson ihn für talentiert hält oder nicht, darüber macht er sich keinerlei Gedanken. Er ist viel zu sehr damit beschäftigt, mit Feuereifer in die Tasten zu hauen, und es macht ihm einen Riesenspaß. 

Tim dagegen ärgert sich schwarz über jeden seiner seltenen Fehler. „Was wird Madame Leson davon halten, wenn mir so blöde Fehler passieren?“ denkt er frustriert. „Womöglich denkt sie bald, dass ich wohl doch nicht so talentiert bin, wie sie dachte!“ Und das ärgert ihn maßlos. Natürlich ist er hochmotiviert, seine Fehler zu vermeiden. Sie vermiesen ihm schließlich den ganzen Spaß an der Musik. Und auch das Üben zu Hause macht ihm dadurch wenig Spaß, zumal seine Eltern großen Druck auf ihn ausüben. Sie haben extra einen großen Flügel für ihren Sohn gekauft, der nun im Wohnzimmer thront, und sie erwarten, dass Tim dort jeden Tag eine Stunde übt, schließlich hat er viel Geld gekostet, und auch der Klavierunterricht soll sich schließlich bezahlt machen!

Von solchen Bedingungen kann Tom nur träumen. Seine Eltern unterstützen seine Liebe zur Musik nicht, das Geld für den Klavierunterricht zahlt er von seinem Taschengeld. Einen Flügel haben sie ihm auch nicht gekauft, noch nicht einmal ein E-Piano. Um üben zu können, hatte sich Tom zuerst aus Pappe eine Klavier-Tastatur ausgeschnitten und darauf dann stundenlang jeden Tag die Bewegungen seiner Finger geübt. Schließlich entdeckte er dann, dass es für kleines Geld eine ausrollbare elektronische Tastatur gab, sodass er wenigstens auch die Töne hören konnte, während er den ganzen Tag damit beschäftigt war, Fingersätze zu üben. Seinen Eltern war seine „Besessenheit mit so einem nutzlosen Kram“ ein Dorn im Auge, aber seine Großeltern hatten schließlich Erbarmen und schenkten ihm zu Weihnachten ein gebrauchtes billiges Keyboard. Nun gab es für Tom natürlich kein Halten mehr. Mit Feuereifer und einer nie nachlassenden Freude war er praktisch den ganzen Tag am Üben — an seinen vielen Fehlern störte er sich nicht, Hauptsache, er durfte Musik machen. 

Preisfrage. Was glauben Sie denn, wie es mit Tim und Tom zwei Jahre später weiterging? Das ist wohl wirklich nicht schwer zu erraten. Der talentierte Tim mit dem absoluten Gehör hat längst die Lust am Klavierspielen verloren, und seine Eltern haben den Flügel unter großem Gezeter und garniert mit vielen Vorwürfen wieder verkauft. Sie halten ihm seither ständig vor, er sei ein Nichtsnutz, zu faul zum Üben, habe sein Talent mit seiner Faulheit verschwendet. Tim hat inzwischen eine große Abneigung für Musik entwickelt, und er hat aus der Geschichte die Lehre mitgenommen, wie schlimm Fehler sind, wie schlimm er selbst ist und dass er seinen Eltern das Leben schwer macht mit seiner unmöglichen Art. Sein Selbstwertgefühl hat großen Schaden erlitten, und er versucht damit halbwegs zurechtzukommen, indem er Musik und Musiker (und nach einer Weile auch generell jede Kunst und alle Künstler) nun abwertet, weil sie sich mit so einer nutzlosen Sache beschäftigen. Als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe? Tom dagegen ist längst der beste Schüler von Frau Leson geworden und ihr Lieblingsschüler sowieso. Er spielt inzwischen Keyboard in der Rockband seiner Schule, was zwar überhaupt nicht Madame Lesons präferierte Musikrichtung ist, aber sie platzt fast vor Stolz über ihren Musterschüler, der nach wie vor den Großteil seines Tages mit Musik verbringt. „Musik ist mein Leben!“, sagt Tom — und er ist darin richtig, richtig gut geworden. Was wäre wohl passiert, wenn er sich zwei Jahre zuvor von seinen Fehlern und vor Madame Lesons mutmaßlicher Meinung über ihn hätte beeindrucken lassen?

Und eine noch interessantere Frage: Könnte es sein, dass Sie so gut im „Ja“-Sagen sind, weil Sie dieser Kunst schon soviel Zeit in ihrem Leben gewidmet haben, dass Sie sie längst meisterhaft beherrschen? Und könnte es sein, dass Sie die Kunst des „Nein“-Sagens deshalb so schlecht beherrschen, weil Sie sie bisher so gut wie nie geübt haben? Wie viel Zeit in Ihrem Leben haben Sie denn das „Ja“-Sagen geübt, und wie viel Zeit in Ihrem Leben das „Nein“-Sagen? Wollen Sie das „Nein“-Sagen wirklich lernen und so gut können wie das „Ja“-Sagen? Dann fangen Sie an, den Übungsrückstand aufzuholen. Es gibt viel zu tun.


Weg Nr. 4 zum Ziel

Respekt

Wer es jedem recht machen will, verliert an Respekt. Denn solch ein überangepasstes Verhalten signalisiert einen Mangel an Identität und führt dazu, dass man bald nicht mehr ernst genommen wird. 


Respekt muss man sich verdienen? Nein!

Ich bin absolut kein Freund von dem Spruch „Respekt muss man sich verdienen“. Wenn Sie den hören, laufen Sie und bringen sich in Sicherheit! Denn in einer gesunden Begegnung zwischen zwei Menschen sollte gegenseitiger Respekt immer die bedingungslose Grundvoraussetzung sein. Jeder Mensch sollte Ihnen mit Respekt begegnen, ohne dass Sie dafür erst etwas tun müssen. Wenn dem nicht so ist, drehen Sie sich bitte um und gehen! Dass man den Vorschuss an Respekt im Laufe der Begegnung dann allerdings wieder verlieren kann, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Und das ist ja auch das, wovor so viele Menschen Angst haben: was, wenn ich die Vorschusslorbeeren, die mein Gegenüber mir gibt, wieder verliere, wenn er mich erst näher kennt? 

Wer so denkt, hat ein Selbstwertproblem — und das haben sehr viele Menschen. Man glaubt, die Erwartungen der anderen sowieso nicht erfüllen zu können. Also versucht man, trotzdem gemocht zu werden, indem man wenigstens die Wünsche der anderen erfüllt, ihnen nach dem Mund redet, sie nicht durch eine abweichende Meinung oder gar ein „Nein“ erzürnt, und am besten gar nicht weiter auffällt. Man fürchtet also, an Respekt zu verlieren, wenn die anderen erst einmal merken, wie wenig man drauf hat, wie unzulänglich man doch eigentlich ist, also will man sie dadurch beschwichtigen, dass man es ihnen recht zu machen versucht. Und ironischerweise verliert man genau dadurch im Laufe der Zeit an Respekt. Denn wer darum bettelt, gemocht zu werden, der bekommt zwar vielleicht noch Mitleid. Aber sicher keinen Respekt.

Dabei ist immer (!) bereits die Prämisse falsch: Wer — außer Ihnen natürlich — sagt denn, dass Sie unzulänglich sind, nichts drauf haben, ja noch nicht einmal würdig sind, auf dem Antlitz dieser Erde zu wandeln? Ach so, das sagen nicht nur Sie, das sagen tatsächlich auch die Menschen in Ihrem Umfeld? Dann sollten Sie dieses Umfeld aber schleunigst wechseln. Denn es hält Sie klein und macht Sie nieder — und so verhält sich nur jemand, der selbst auch kein gutes, belastbares Selbstwertgefühl hat und darum versucht, andere kleinzumachen, um sich dadurch größer zu fühlen. Wissen Sie, wie man solche Menschen in der Psychologie nennt? Richtig, da sind sie, die Narzissten. Und die haben an der Wurzel das gleiche Problem: ein sehr schwach ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Nur dass deren Scheinlösung eben nicht der Versuch ist, es allen recht zu machen, sondern im Gegenteil das schwache Selbstwertgefühl aufzublasen wie einen Luftballon und überall damit zu prahlen, wie toll sie doch sind - nicht so ein Versager wie alle anderen um sie herum. Narzissten haben also nur zum Schein ein (über-)großes Selbstwertgefühl. Tatsächlich ist es sehr brüchig und instabil. Und darum scharen sie gerne Menschen um sich herum, die ebenfalls ein niedriges Selbstwertgefühl haben — die aber genau entgegengesetzt damit umgehen und sich nicht größer, sondern kleiner machen als sie sind. Und darum das Märchen glauben, nichts zu können und nichts wert zu sein. Wer an sich selbst glaubt und seine Fähigkeiten kennt, hat es weder nötig, andere kleinzuhalten, um sich besser zu fühlen — noch, es allen recht zu machen, um sich Wohlwollen zu erbetteln. Soweit nachvollziehbar? Gut. Aber wie baut man sich denn ein gesundes Selbstvertrauen auf?

Was können Sie gut?

Nehmen Sie sich doch mal ein Blatt Papier und einen Stift. Bitte machen Sie diese Übung nicht nur im Kopf, weil Ihr Unbewusstes dies sonst nicht als Suchauftrag erkennt. Und nur wenn Ihr Unbewusstes verstanden hat, dass Sie etwas über sich erfahren wollen und dass Ihnen dies so wichtig ist, dass Sie es sogar schriftlich festzuhalten gedenken, werden Sie das meiste aus dieser Übung herausholen. Denn dann wird sie nachwirken, und Ihnen wird auch noch im Nachhinein noch einiges dazu einfallen — das Sie dann natürlich auf Ihrer Liste ergänzen sollten. Und eben weil Sie diese Übung vermutlich noch nie gemacht haben, sind Sie zu Beginn vermutlich völlig davon überzeugt, nicht viele Dinge gut zu können, nicht viele gute Eigenschaften zu haben und überhaupt ein ganz kleines Licht zu sein. Und genau darum brauchen Sie eine schriftliche Liste, zu der Sie in den nächsten Wochen und Monaten immer wieder zurückkehren können, um sie zu ergänzen. Im Kopf geht das nicht, die Übung würde nutzlos verpuffen.

So, genug der Vorrede, nun legen Sie bitte los: Schreiben Sie zuerst all die Dinge auf, die Sie gut können. Denken Sie dabei nicht nur an berufliche Fähigkeiten oder Talente, sondern auch an persönliche Stärken, wie zum Beispiel Geduld, Empathie oder Kreativität. Wenn Ihnen nichts einfällt, fragen Sie Freunde oder Familienmitglieder. Oft sehen sie in uns Dinge, die wir selbst nicht erkennen.Als Nächstes listen Sie Ihre Schwächen auf. Seien Sie dabei ehrlich zu sich selbst, aber bitte auch freundlich. Jeder Mensch hat Schwächen, und das Erkennen dieser Schwächen ist der erste Schritt hin zur besten Version Ihrer selbst. Denken Sie daran, dass Schwächen nicht unbedingt negativ sind; sie sind einfach Bereiche, in denen Sie wachsen können.

Wenn Sie Ihre Liste erstellt haben, nehmen Sie sich Zeit, sie zu betrachten. Wie fühlen Sie sich bei den verschiedenen Punkten? Stolz? Überrascht? Motiviert? Diese Emotionen sind wichtige Hinweise darauf, was Ihnen wirklich wichtig ist und wo Ihre Leidenschaften liegen. Und jetzt, da Sie eine klare Vorstellung von Ihren Stärken und Schwächen haben, setzen Sie sich Ziele. Wählen Sie eine Stärke aus, die Sie weiter ausbauen wollen, und eine Schwäche, an der Sie arbeiten möchten. Machen Sie einen Plan, wie Sie beide Ziele erreichen können. Vielleicht möchten Sie ein Buch zu genau dem Thema lesen, an dem Sie arbeiten möchten — wie zum Beispiel dieses Buch hier… Vielleicht möchten Sie ein Seminar oder einen Workshop belegen — wie wäre es zum Beispiel mit einem Rhetorik-Seminar, um Ihren Argumenten mehr Gewicht zu verleihen und sich besser behaupten zu können? Oder Sie möchten sich sogar einen Coach oder einen Mentor suchen.Denken Sie daran, Ihre Liste regelmäßig zu überprüfen und zu aktualisieren. Ihre Stärken und Schwächen können sich im Laufe der Zeit ändern, und es ist wichtig, dass Ihre Liste Ihre aktuelle Situation widerspiegelt. 

Diese Übung ist ein lebenslanger Prozess, der Ihnen hilft, sich selbst immer besser zu verstehen und Ihre persönliche Entwicklung voranzutreiben.Vergessen Sie nicht, sich selbst für jeden Fortschritt zu loben, den Sie machen. Selbst die kleinste Verbesserung ist ein Schritt in die richtige Richtung. Indem Sie Ihre Stärken feiern und an Ihren Schwächen arbeiten, bauen Sie Selbstvertrauen auf und bewegen sich auf Ihre Ziele zu. Und ganz nebenbei werden Sie sich mit dem neu erlangten Selbstvertrauen ein ausgezeichnetes Rüstzeug schaffen, um immer öfter ganz entspannt „Nein“ sagen zu können.